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Seelenasche

Titel: Seelenasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Vladimir Zarev
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irgendwie kleiner geworden, bedrückt. Manchmal hatte diese Zärtlichkeit, dieses selige Gefühl beim Anblick seiner Mutter ihn so überwältigt, dass er drauf und dran war, ihre ganze Einzigartigkeit in einem Bericht für die bulgarische Staatssicherheit zu verewigen. Gut, dass sein Verstand ihn davor bewahrt hatte. Er rückte zur Seite, damit sie sich neben ihn aufs Bett setzen konnte, und witzelte:
    Â»Hallo, Mama. Ich hab Hunger.« Aber sein Scherz zündete bei ihr nicht, machte ihr keine Freude. Sie nahm das Fläschchen Chanel No. 5 von seinem Schreibtisch und drehte es zwischen den Fingern, ohne zu registrieren, was es war. Ihr war schwer ums Herz, alles war so verwickelt.
    Â»Ich möchte mit dir reden …« Ihre Stimme nahm ab und erlosch wie eine Kerze.
    Â»Was ist denn passiert?«
    Sie lächelte kaum wahrnehmbar, bitter, fügsam, und ihm wurde klar, dass ihre Worte etwas nicht einfach nur Schreckliches, sondern etwas Unwiderrufliches andeuteten. Bei der Vorstellung, dass sie herausbekommen hatte, dass er ein Denunziant war, wurde ihm schlecht. Sie kannte die Seele ihres Buben, da konnte er nicht mit pathetisch-zerknirschten Bekenntnissen der Marke »Ich bin ein elender, hundsgemeiner Spitzel« die Situation herunterspielen und sie täuschen, wie Mariana. Seine Mutter war ein sonderbarer Mensch. Sie hatte sich ihre Anständigkeit, ihren Idealismus bis auf den heutigen Tag bewahrt. Sie nahm diesen altmodisch gewordenen Idealismus aber nicht zum Anlass, andere zu beschuldigen oder gar einzuschüchtern, nein, diese ihre sittliche Wucherung war unschuldig, stand ihr so natürlich wie ein zwar abgetragenes, aber sauberes und zeitlos schönes Gewand. Sie glaubte noch immer an das Gute im Menschen, war vertrauensselig, und wenn jemand sie enttäuschte, brach sie weder Streit vom Zaun, noch verlangte sie eine Erklärung, sondern tat ihn einfach von sich ab, entfernte ihn oder sie aus ihrem Leben und – vergaß sie. Christo schaute ihr in die Augen. Die schienen fortgegangen zu sein. Er zuckte zusammen:
    Â»Was ist passiert, Mama?«
    Â»Ich sage es nur dir«, flüsterte sie, schraubte den Verschluss auf die Parfümflasche und reichte sie ihm zerstreut. »Ich war heute beim Arzt. Sie haben festgestellt, dass ich Krebs habe.«
13
    Im Fernsehen lief eine Pressekonferenz zum Thema Wasser. Der Herbst war heiß und trocken gewesen, der Winter ohne Schnee, und auch im Frühjahr fiel kaum Niederschlag. Der Pantscharewo-Stausee war ausgetrocknet, der Wasserspiegel des Isker-Stausees weiter oben im Rila war dramatisch gesunken; in Sofia drohten Wassermangel und Epidemien. Die Sache begann ihn zu interessieren, und so schaute Jordan die ganze Übertragung bis zum Ende. Sie weckte aufs Neue sein Gespür dafür, wie gefährdet der Mensch war, ja, die moderne Zivilisation insgesamt. Besessen davon, ihr Leben vollzustopfen mit allerlei überflüssigem Krimskrams, gierig nach Komfort und nach Annehmlichkeiten, verschwendeten die Menschen die Naturvorräte mit der Bedenkenlosigkeit eines Kindes, das sein Schulbrot in den Mülleimer wirft, weil die anderen Kinder Schokoladenriegel essen. Das war ein Problem, das er auch in seinem Runden Tisch aufgreifen konnte, zumal es sich mit den hehren Zielen der ins Stocken geratenen Perestrojka verbinden ließ.
    Jordan zog seinen Notizkalender hervor und schrieb auf den ersten Samstag im Juli: »Die Errungenschaften des menschlichen Verstandes flößen Respekt ein, zeigen aber auch seine extreme Hilflosigkeit. Was bleibt von einem Wolkenkratzer übrig, wenn der Strom ausfällt und die Aufzüge stecken bleiben? Ein aufgetürmter Unsinn, der Zeit und dem langsamen Verfall überlassen wie die Cheops-Pyramide. Letztere ist immerhin noch ein Sakralbau, ein Versuch, die Götter und die menschliche Phantasie unsterblich zu vereinen; der Wolkenkratzer hingegen ist ein praktisches Erzeugnis, ein gelöstes Statikproblem. Je weiter eine Zivilisation technologisch entwickelt ist und je größer sie uns erscheint, desto abhängiger ist sie auch von natürlichen Ressourcen. Zugleich mit der Elektrizität durfte die Menschheit also auch die Begrenztheit ihres Verstandes entdecken. Der Sieg über die Natur ist ein Pyrrhussieg, und der Glaube an den unbegrenzten Fortschritt von Wissenschaft und Technik ist nur die Ersetzung früherer Religionen durch die Vergottung der Wahrheit.« Er

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