Seelenasche
Sozialismus â gut und schön; aber Umbau zu was?, fragte er sich mit einer schon zur Gewohnheit gewordenen beiläufigen Ironie. Er warf seinen nassen Regenmantel über den Garderobenhaken, schlüpfte in seine Pantoffeln und ging vom dunklen Korridor aus ohne Umwege in seine Räuberhöhle. Sein Zimmer war so klein, alles schien mit Macht hineingepfercht worden zu sein; aber man hatte einen Blick auf den Hof, in die Freiheit, auf die Tauben und ihr aufgeplustertes Gefieder und die Kastanien mit ihrem bizarren Geäst. Früher musste dies wohl einmal das Zimmerchen der Hausangestellten gewesen sein, aber Christo hatte es auf den ersten Blick gemocht und für sich ausgesucht. Er fühlte sich darin geborgen, und nur hier kam er sich erwachsen und â was noch wichtiger war â bedeutend vor. Es gab darin nur ein Bett, ein Nachttischchen, auf dem sein Grundig-Fernseher stand, und einen alten Bücherschrank. Bis vor einigen Jahren waren die Wände regelrecht tapeziert gewesen mit Fotos, Ausschnitten und Plakaten seiner Tante Emilia in all ihren Rollen und talentlosen Darstellungen â lächelnd, weinend, erschrocken, in prächtigen mittelalterlichen (oder Renaissance-)Kostümen und verführerisch tief ausgeschnittenen Badeanzügen, kurz, teils in die Würde der klassischen Welt, teils in die Geschmacklosigkeit der modernen gekleidet.
So wie einige Männer bis ins hohe Alter ihre Zinnsoldaten aufbewahren, so hatte er in seinem Schreibtisch kleine, aber für ihn unschätzbare Dinge versteckt: ein von ihr achtlos weggeworfenes Fläschchen, in dem nur noch einige wenige Parfümtropfen verblieben waren, sodass er, um diesen Rest nicht zu vergeuden, nur einmal im Monat auf den Zerstäuber drückte; die Kordel, die einst ihren Strohhut geziert hatte; eine Spange, die ihr bei einer Silvesterfeier aus dem Haar gefallen war; ein Wattebäuschchen zum Auftragen von Rouge und Wimpernbürsten; eine vor fünfzehn Jahren getrocknete Nelke, die sie in der Hand gehalten hatte; ein Taschentüchlein mit aufgestickter Rose, und last, but not least gelb-schwarze Seidenstrapse, die längst nicht mehr elastisch waren, aber immer noch so schamlos, dass es ihm jedes Mal einen Stich gab. Er hatte einmal mit Dessislava Verstecken gespielt, sich in Emilias Kleiderschrank verkrochen und sie daraus entwendet. Dies war ein Akt von solcher Dreistigkeit, dass er ihn mit Kühnheit und Inspiration erfüllte. Seine Hosentasche war nicht sehr tief, darum musste er sie irgendwo am Körper verbergen, aber wo? SchlieÃlich überwand er auch die letzte Scham und stopfte sie sich in die Unterhose. Danach konnte er monatelang nicht einschlafen vor Aufregung, sondern musste sie immer wieder betrachten und berühren, stellte sich Emilia als riesige lüsterne Wespe vor, deren Stachel sich auf dem Höhepunkt der Erregung in sein Herz bohrte.
Er wusste, dass sein Vater sich in Widin als Kind ein Herbarium angelegt hatte. Christo versuchte möglicherweise, diese Verzweiflungstat auf seine Weise zu wiederholen und seiner Hilflosigkeit zu entkommen in der raschelnden Abgelebtheit zufälliger Fundstücke, im Versuch, seine Gefühle in diese Objekte zu bannen, sie haltbar zu machen und gleichzeitig nicht nur seine verunglückte Kindheit zu bewahren, sondern auch einen Teil von sich abzutöten. Er öffnete die Kappe des Zerstäubers, roch daran, aber er erschnupperte nichts Erregendes oder Anbetungswürdiges auÃer dem fast verflüchtigten Duft dieses im Intershop gekauften Flakons Chanel No. 5.
Die Liebe zu seiner Tante, stets begleitet von einer alles zerfressenden Zerknirschung, war ebenso urplötzlich verflogen, wie sie gekommen war, und hatte ihm seine Freiheit und Gleichgültigkeit wiedergegeben.
Die Schritte im Flur lieÃen ihn zusammenfahren. Sie waren furchtsam, aber nicht lauernd. Nein, diese Schritte wollten ihn nicht in seiner Schande, seiner Schwäche ertappen. Es war seine Mutter. In den letzten Jahren wirkte sie runder, obwohl sie nicht dicker geworden war. Ihre Formen hatten einfach nur jene unerschütterliche Sanftheit angenommen, die alle wahrhaft guten Menschen ausstrahlen. Ihre Haare waren silbrig geworden an den Spitzen und standen ihr wie eine Aureole um den Kopf. In ihren Augen lag alle Müdigkeit und alle Verwunderung über die Gemeinheit dieser Welt. Christos Herz zog sich zusammen vor Zärtlichkeit, als er sie jetzt sah,
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