Seelenasche
Luft.
»Das tut mir leid â¦Â«
»Danach bin ich mit meinen Freunden rauf zum Stillen Winkel gefahren, um meinen Reinfall zu begieÃen. Und da oben ist was Schlimmes passiert.«
Jordan sah, wie seine Schwester sich auf die Lippen biss und fragte: »Es hat dich doch nicht jemand beleidigt?«
»Nein, nicht mich, aber einen Bekannten, sogar einen, den ich richtig liebe. Im Stillen Winkel war es derart laut, mir pfeifen jetzt noch die Ohren.«
»Ihr habt euch also gut amüsiert.«
»Ja, super, ganz toll, aber ich bin total erledigt jetzt.« Sie stieà das Glas von sich und drückte die Zigarette im nächsten Blumentopf aus. »Ich will deine Zeit nicht verschwenden. Bin eigentlich nur gekommen, um dich zu fragen, warum der Mensch sich immer und wegen allem schuldig fühlt?«
»Schuldig wegen was?«
»Wegen der anderen.«
Auf einmal merkte Jordan, dass sie sich auch jetzt ihm gegenüber verhielt wie eine, die seinetwegen Schuldgefühle hatte, und erschauerte. Eine diffuse Unruhe breitete sich in seinem Kopf aus und schärfte sein Denken. Der ausgeleierte Pullover seiner Schwester ärgerte ihn. Sie war ein schönes, gut gebautes Mädchen, und Jordan konnte einfach nicht verstehen, warum sie sich immer wie eine Stoffpuppe anzog. Er erinnerte sich an eine Ausstellung im Deutschen Kulturinstitut, wo die Stoffpuppen am teuersten waren, weil sie jemandes extravaganter Phantasie entsprungen waren und Symbole des Individualismus waren. Im Unterschied zu den Zelluloidpuppen in den Geschäften und den lebenden Püppchen im Fernsehen waren die Stoffpuppen Einzelstücke, unwiderholbar. Vielleicht behauptete auch Dessislava auf diese schlichte Weise die unverwechselbaren Seiten ihrer Persönlichkeit.
Sie standen fast gleichzeitig auf. Das Unbehagen lag zwischen ihnen wie eine unsichtbare Wand. An der Tür gab seine Schwester ihm einen Kuss und hielt seine Hand lange fest.
»Wann immer du mich brauchst, kann ich kommen und bei dir bleiben«, sagte sie, ohne ihrem Bruder zu erzählen, was sie oben im Stillen Winkel gesehen hatte.
»Du bist wirklich viel zu sensibel, Dess«, erwiderte Jordan, einfach weil er etwas sagen wollte, das beiden angenehm war.
14
Bis elf Uhr war er in der Küche mit Essen beschäftigt, unterdessen trat die Nacht ein, weich, geschmeidig, geradezu gefährlich sanft. Der Gedanke, dass Neda niemals zurückkehren würde, wirkte auf ihn wie Frühjahrsmüdigkeit. Das Warten laugte ihn aus. Sein Adrenalinspiegel stieg, er fühlte sich verwundet, in die Ecke gedrängt. SchlieÃlich ging er ins Bad und lieà sich von den Wasserriemen der Dusche auspeitschen. Die Eifersucht überlief ihn in Wellen. Schon vor langer Zeit war ihm aufgefallen, dass die Ehepartner am anderen genau jene Eigenschaften am meisten hassten, die ihn oder sie in der Anfangsverliebtheit am stärksten angezogen hatten. Die Mädchen sind entzückt von der lässig-freien und unbekümmerten Lebensart ihres Freundes, aber wenn die Beziehung in feste Bahnen kommt und die Situationen sich wiederholen, hassen sie genau dies immer mehr an ihm. Dasselbe gilt für Prasserei und Prahlerei, die ihnen anfangs so schön als GroÃzügigkeit und Kommunikationsfreude erscheinen, oder für ausgeprägtes Machogebaren (oder groÃe Schüchternheit), die zu Beginn als Selbstbewusstsein eines Menschen wirken, »der weiÃ, was er will« (beziehungsweise als Sensibilität dessen, der die Menschen nicht vorschnell beurteilt). Doch wenn die enttäuschten Ehepartner sich eine Geliebte oder einen Geliebten zulegen, dann weist der nicht selten genau jene Mängel oder Einseitigkeiten auf wie der Partner, nur dass diese mangels gemeinsamen Lebens uns wieder »unverbraucht« und attraktiv vorkommen.
Unser angeborener Drang, uns unglücklich zu machen, dachte Jordan, hat es nicht eilig, er verfolgt sein Ziel geduldig, indem er uns in immer neue Illusionen stürzt. Diese seltsame Paradoxie der menschlichen Psyche erheiterte ihn, wenn er sie bei anderen beobachtete. Nun war die Zeit gekommen, sie am eigenen Leibe zu erfahren. Durch das Rauschen der Dusche hindurch hörte er, wie die Wohnungstür sich knarrend öffnete. Neda. Er drehte den Wasserhahn zu, trocknete sich ab, atmete tief und gleichmäÃig ein und aus, um seinen Puls und seine Nerven zu beruhigen. Im Korridor war es dunkel; dennoch sah er sie an dessen
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