Seelenbrand (German Edition)
nach so einer Art Armutsgelübde leben sollte«, Marie erreichte als erste das weite, sanft geschwungene Tal und sah sich nach Pierre um, »machte er durch seine Geschäfte natürlich eine Menge Geld, und im Laufe der Jahre wurde ihre Vereinigung sogar reicher und mächtiger als die damaligen Fürsten. Stell dir vor ... sie galten als derartig vertrauenswürdig, daß ihnen neben den Königen von Frankreich, sogar die Könige von England – und einige Päpste – die Verwaltung ihrer Gelder anvertrauten oder Schätze bei ihnen hinterlegten, wenn sie in den Krieg zogen. Ein Großteil der Mächtigen war damals sogar hoffnungslos beim Orden verschuldet. Und dann kam natürlich das Unausweichliche ... So war es nur eine Frage der Zeit, bis ein raffgieriger Neider auf den Plan trat und versuchte, ihnen ihre Reichtümer abzunehmen.«
»Erstaunlich!« Ein letzter großer Schritt und Pierre stand neben ihr auf dem geschotterten Weg im Tal. »Gewisse Dinge ändern sich wohl nie! Aber davon mal abgesehen ... ich glaube, du weißt eine ganze Menge mehr über diese Templer als ich.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich hatte in meinem Leben viel Zeit, mich mit solchen Dingen zu befassen ... Geldprobleme hatte ich ja dank Tante Pauline nie. Viele Sachen habe ich während meines Studiums gelesen und den Rest während meiner Spaziergänge um die Ruinen. Sie haben mich immer schon fasziniert.« Sie überlegte einen Augenblick. »Ich glaube, ich habe alle Bücher über sie gelesen, die es gibt. Vielleicht auch deshalb, weil ich das Glück hatte, hier zwischen den Ruinen ihrer Stammsitze und Ordenshäuser aufzuwachsen.«
Er sah zurück den grünen Hang hinauf, aber seine Pfarrei war schon lange hinter den schroffen Felsen weiter oben und hinter den zahllosen Wegbiegungen verschwunden. Für die nächsten Stunden war er erst einmal seinem Gefängnis entflohen und das sogar in hübscher Begleitung. Wenn er bedachte, wie der Tag angefangen hatte ...
»Hier, wo wir jetzt stehen«, Marie deutete auf den staubigenund steinigen Weg, »haben sich über Jahrhunderte Zehntausende, wenn nicht sogar Hunderttausende frommer Menschen vorbeigequält, auf ihrer Pilgerfahrt nach Santiago de Compostella. Ist das nicht irgendwie ergreifend?« Sie schwieg einen Moment und überlegte. »Getrieben von einer inneren Kraft, vielleicht von Gott selbst. Nur für ihn haben sie diese Mühsalen und Qualen auf sich genommen.« Sie sah ihn ratlos an. »Sollten sich denn all diese Menschen geirrt haben und für nichts und wieder nichts diese vielen hundert Kilometer bis nach Spanien gelaufen sein?«
Sie lauschten dem lieblichen Gezwitscher der Vögel und dem lautstarken Gezirpe der Grillen. Im hohen Gras raschelte es unentwegt, und etwas weiter hoppelte ein kleines Kaninchen über den Weg. Die Dunkelheit hatte hier keine Macht. Die unterirdischen Höhlen, die sie entdeckt hatten, der Friedhof, die Kirche und der tote Aushilfspfarrer ... das alles hatte hier keine Bedeutung. Die Erde würde sich weiterdrehen, auch wenn sie herausfänden, daß die Kirche ihre Gläubigen seit Jahrhunderten dreist belogen hatte.
»Willst du den Rest auch noch hören?« fragte sie und sprang über den kleinen Bach, der neben dem Weg entlangplätscherte. »Ich verkürze die zweihundert Jahre ein wenig.«
»Ich bitte sogar darum!« Er folgte ihr mit einem Sprung über das Wasser.
»Jetzt immer diesem kleinen Pfad nach.« Sie deutete auf einen Wald, der am Fuß eines schroffen Felsgewirrs lag, auf dessen Spitze – uneinnehmbar wie ein Adlerhorst – die Templerburg aufragte.
»Von weitem sieht das Gemäuer wie ein Schutthaufen mit ein paar Türmen aus«, Pierre war erstaunt, »aber wenn man näher kommt ...«
»Ja, das stimmt! Aber bis vor zwanzig Jahren lebte hier auch noch ein Nachfahre der Blancheforts.« Marie ging schnellen Schrittes voran – sie schien es immer irgendwie eilig zu haben. »Tante Pauline hat mir zwar von ihm erzählt, aber ich war damals noch zu jung, um mich für diesen Menschen zu interessieren.«
»Und dieser Bertrand de Blanchefort, der da oben geboren wurde und lebte ... der war irgendwann mal Chef des Tempelritterordens?«
Marie sah Pierre wegen dieser Respektlosigkeit strafend an, als sich der Weg zwischen kleinen Bäumchen und dichtem Gehölz verlor. »Er war von 1153 bis 1170 der vierte Großmeister des Templerordens. Und zwar einer seiner Bedeutendsten!«
»Sag’ ich doch!« stichelte Pierre nach. »Er war ihr Chef!« Das Gebüsch wurde immer
Weitere Kostenlose Bücher