Seelenbrand (German Edition)
zu reden. Sollten sie den glücklichen Eltern etwa sagen, daß es reine Zeitverschwendung wäre, ihr Kind taufen zu lassen, weil die Seele ihres Kleinen – genau wie die ihrige – den Tod ohnehin nicht überdauern würde?
Beim Frühstück hatten sie lange – und ohne jede religiöse Zurückhaltung – über ihre geheimsten Befürchtungen gesprochen und waren sich darüber einig, daß es falsch wäre, aus anerzogener Frömmigkeit die Augen vor dem Offensichtlichen zu verschließen. Wenn dieser Jesus, den die Kirche ihren Schafen seit Jahrhunderten als Sohn Gottes präsentierte, bei der Kreuzigung nicht gestorben war ... weil sie seinen Zwillingsbruder genommen hatten ... und wenn es tatsächlich einen Beweis dafür gab, daß der richtige Jesus nach der Kreuzigung seines Bruders irgendwo weitergelebt hatte ... dann war damit die zentrale Säule des Glaubens zerstört ... das Fundament, das die Kirche seit fast zweitausend Jahren trug. Ihre Glaubwürdigkeit wäre dahin! Dieser Jesus, über den die Evangelien berichten ... war als Sohn Gottes das einzige Bindeglied zwischen diesem unsichtbaren Gott ... und den Menschen auf der Erde. In einem Meer von religiösen Schriften, einem unüberschaubaren Wirrwarr von frommen Erzählungen war dieser Jesus doch wohl das einzig Greifbare, mit dem Gott den Menschen seine eigene Existenz eindeutig bewiesen hatte. Niemals zuvor hatte ein Sterblicher diese himmlische Macht gesehen ... wenn sie beide mal von den diversen brennenden Dornenbüschen absahen, die theatralisch in der Bibel verteilt waren. Aber wer sollte das noch glauben! Jesus Christus war der einzige Beweis für einen Gott!
Mit Entsetzen war ihnen klar geworden, daß sie Stück für Stück die zentralen Stellen des Glaubensbekenntnisses in Trümmer legten: »... auferstanden von den Toten und aufgefahren in den Himmel, dort wo er zur Rechten Gottes sitzen soll ...«
Wenn sich herausstellte – und Marie, als Archäologin war da völlig seiner Meinung –, daß der alte Abbé einen Beweis dafürgefunden hatte, daß Jesus überhaupt nicht gekreuzigt worden war, und die Evangelien die Menschen seit Jahrhunderten belogen, dann wäre die kirchliche Lehre vom Sohn Gottes, der in den Himmel aufgefahren ist, eine der größten und dreistesten Lügen des Abendlandes.
Und nach dem, was sie vermuteten, dienten die Besuche der hohen kirchlichen Würdenträger beim alten Saunière nur dem einen Ziel, das gefährliche, das vernichtende Beweismittel an sich zu bringen, bevor es in falsche Hände geriet. Wäre dieses Dokument oder diese Reliquie ohne Wert gewesen und damit keine Gefahr für die Kirche und den Glauben, dann hätte Rom den alten Saunière dem Haß seines Bischofs überlassen, der ihn gerne für sein ausschweifendes Leben bestraft hätte. Niemand wäre je auf diesen renitenten Landpfarrer aufmerksam geworden. Statt dessen aber hatte die zuständige Kommission in Rom den Alten gegen die Entscheidung seines Bischofs in Schutz genommen und dessen durchaus gerechtfertigte Suspendierung wieder aufgehoben.
Wenn sie den Beweis für ihre ungeheuerlichen und vernichtenden Vermutungen hier in Rennes finden würden, würde von diesem kleinen und unbedeutenden Ort in den Pyrenäen der größte Brand ausgehen, den die Christenheit je gesehen hatte. Und sie ... sie waren die Brandstifter, die mit ihrem Zündeln die gesamte abendländische Zivilisation eingeäschert hätten. Hier trugen sie Gott ... und die Unsterblichkeit aller Seelen zu Grabe!
Sie wußten es.
Die Verantwortung war für einen Menschen nicht zu ertragen, aber jetzt hatten sie wenigstens einander.
»Ich weiß nicht, ob wir dort wirklich etwas finden«, Pierre ging die staubige Straße bergab, »aber Bruder Severin hat diese Alraune eindeutig wiedererkannt.«
Er hatte ihr beim Frühstück alles über sein Erlebnis beim Kräuterbruder berichtet, von seiner erschreckenden Vision und dem kleinen Pflänzchen, welches das Phantom verloren hatte.
»Du wirst sehen, auch wenn wir dort nichts Geheimnisvolles entdecken ... diese Ruine hat etwas Besonderes!« Sie sah ihn an. »Stimmt mit deiner Soutane etwas nicht, oder warum bist du heute schon wieder in Zivil?«
»Stört es dich?«
»Nein, natürlich nicht! Aber irgendwie ist es erstaunlich.« Sie musterte ihn unverhohlen von oben bis unten. »Sobald du ohne dieses Ding bist ... siehst du aus, wie ein ganz normaler Mensch. Wenn ich dich so sehe, dann würde ich auf einen gutaussehenden Schaf- oder Schweinezüchter
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