Seelenbrand (German Edition)
denn der Tod, der mich treffen sollte, traf einen anderen ... ich war es nicht, der die Galle trank und den Essig ... es war ein anderer, mit Namen Simon, der für mich das Kreuz auf seinen Schultern trug, und dem sie die Dornenkrone aufsetzten ... Ich aber war es, der über ihre Unwissenheit lachte. ‹ «
Stille.
Pierre schluckte. »Halten Sie diesen Text für glaubhaft?«
»Unsere Dienststelle hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, um dieses Geschmiere aus dem Verkehr zu ziehen.« Von Rittenberg zeigte keine Regung. »Diese Zeilen stammen etwa aus den Jahren zwischen 130 und 140. Und diese Zeit liegt gefährlich nahe an der Entstehungszeit unserer heutigen Evangelien!«
»Und das bedeutet?« mischte sich Marie ein.
»Das bedeutet, daß wir nicht mit Sicherheit sagen können, ob der Urheber dieser Schrift ... ein gewisser Basileides ... lügt ... oder nicht! Denn diese Behauptung, Simon aus Zyrene sei an Stelle von Jesus Christus am Kreuz gestorben, ist eine der hartnäckigsten Irrlehren, mit der wir es je zu tun hatten. Und dieser Gelehrte aus Alexandria wußte mit hebräischen Schriften ebensogut umzugehen, wie mit den christlichen Evangelien. Er hätte mit seinen Schriften ohne weiteres den Platz von Lukas oder Matthäus einnehmen können, denn wir wissen nicht ... welcher von ihnen nun wirklich die Wahrheit verkündet.«
»Und was glauben Sie?« Pierre rieb sich das Kinn und musterte seinen Gegenüber.
Der überlegte lange, ob er darauf antworten sollte. Schließlich blätterte er einige Seiten zurück. »Unser Zentralarchiv in der Dienststelle hat Belege dafür ... daß Jesus Christus erst im Jahre 64 in Rom gestorben ist. Also etwa dreißig Jahre nach seiner angeblichen Kreuzigung.«
Stille.
Niemand wagte zu sprechen. Pierre war wie betäubt. Die Gedanken schossen wie ein Schwarm Hornissen in seinem Kopf herum. Dieser von Rittenberg versuchte nicht einmal zu leugnen! Er hatte ihnen doch gerade eiskalt zu verstehen gegeben, daß alles, woran die Menschen glaubten, nachweislich nur ... ein Märchen war. Im Grunde hatte er gerade selbst den tragendsten Stein aus dem Fundament des Glaubens herausgezogen ... und damit das jahrtausendealte Bauwerk des Abendlandes zum Einsturz gebracht. Sie waren soeben Zeuge geworden, wie sich, von einem Augenblick zum anderen, zweitausend Jahre christliche Kultur ... in Luft aufgelöst hatten.
»Das haben Sie sich doch alles nur ausgedacht!« schimpfte Marie, die wieder einmal als erste ihr Mundwerk in Bewegung setzte. »Sie wollen uns doch nur verwirren und ...«, sie fuchtelte wild mit ihren Händen herum.
Von Rittenberg sah sie verwundert an. »Meine Liebe!« sagte er schmalzig. »Warum sollte ich das tun?«
»Weil ... weil ...«, sie war aufgesprungen und suchte wild gestikulierend nach den richtigen Worten. »Nun sag du es ihm!« fuhr sie Pierre an, als sie nicht mehr weiter wußte.
»Weil nicht sein kann ... was nicht sein darf?« Von Rittenberg blätterte ruhig in seinem Notizbuch. »Sie sind doch Archäologin, Mademoiselle Darmond«, er blickte zu ihr hoch, »und als Wissenschaftlerin sollten Sie doch eigentlich wissen ... daß kein Gebiet des menschlichen Daseins tabu sein darf, wenn es darum geht, die Wahrheit zu erforschen!«
»Wenn Sie so großen Wert auf die Wahrheit legen ...«, fauchtesie zurück, »warum haben Sie Ihre Erkenntnis nicht schon längst veröffentlicht?«
»Würden Sie die Kuh schlachten, von deren Milch Sie leben?« Die fahle Gestalt sah wieder in ihr Buch.
»Jetzt sag du doch auch mal was!« herrschte sie Pierre von der Seite an, der immer noch versunken dasaß. Sie war sich wohl nicht der vernichtenden Kraft dieses Augenblicks bewußt ... denn sonst wäre sie wohl zitternd zusammengesunken.
»Haben Sie noch mehr Details?« fragte er schließlich wie in Trance.
»Wie kannst du nur so ruhig bleiben?« schimpfte sie.
»Beruhigen Sie sich, meine Liebe!« Von Rittenberg versuchte sich zu konzentrieren. »Es gibt keinen Anlaß für Ihre Erregung!«
»Setz dich, bitte!« Pierre deutete auf die Bretterkiste. »Wir wollen hören, was er zu sagen hat!« In diesem Augenblick tranken sie mit Hilfe dieses Irren aus einer Quelle des Wissens ... deren Geheimnisse von unschätzbarer Bedeutung für die gesamte Christenheit waren.
»Aber ...«, stotterte sie.
»Setzt dich!« drohte er.
»Im Juni des Jahres 60 n. Chr. ...«, Marie ließ sich murrend auf der Kiste nieder, während Pierre andächtig den Worten von Rittenbergs lauschte, »... lief ein
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