Seelenbrand (German Edition)
künstlerischer Ausdruck schien ausreichend gewesen zu sein ... wenn ich Ihre Reaktion richtig interpretiere.«
»Der spinnt!« flüsterte Marie.
»Die Kunst der Schauspielerei, meine Liebe, erfordert höchste Disziplin und emotionale Präzision.«
Pierre stieß Marie in die Seite, als sie sich anschickte Widerworte zu geben. »Soll das heißen, daß Sie den alten Abbé nicht umgebracht haben?« drängelte er sich vor, ohne weiter auf die seltsame Diskussion über die Schauspielerei einzugehen.
»Natürlich nicht!« Von Rittenberg deutete Pierre, sich wieder zu setzen, und sein Tonfall unterstrich die Absurdität dieser Anschuldigung. »Warum sollte ich so etwas Schreckliches tun?«
»Weil er etwas herausgefunden hat, das gefährlich war!« mischte sich Marie scharfzüngig ein.
»Erstens ...«, von Rittenberg kramte in einer Schreibtischschublade und förderte schließlich ein kleines Brot zutage, »... versichere ich Ihnen, daß Ihr werter Herr Vater nichts entdeckt hat ... was in irgendeiner Form eine Gefahr für die Kirche dargestellt hätte.«
»Und zweitens?« forschte Pierre streng nach.
Von Rittenberg biß herzhaft zu. »Und zweitens ... verpassenSie einen ausgezeichneten Ziegenkäse. Hergestellt von unserem Bruder Severin.«
»Und was ist mit der Bildersammlung?« Marie pellte sich aus ihrer Wolldecke und ging in ihrer bissigen Art wieder zum Angriff über.
»Sind Sie sicher, daß Sie nicht doch ein Stückchen möchten?« Von Rittenberg spießte einen Würfel auf das Käsemesser und reichte ihn herüber.
Pierre nickte, und sie griff zu. Wie kann man in einer solchen Situation nur ans Essen denken? Aber er hielt es für besser, die Lage mit allen Mitteln so weit wie möglich zu entschärfen. Sie mußten diesen Spinner unbedingt in Sicherheit wiegen ... und irgendwann würde dieser Irre bestimmt einen Fehler machen ...
»Ihr werter Herr Vater hat sich in eine Idee verbissen, die der Kirche und ihren Dienststellen schon seit Jahrhunderten bekannt war.«
»Daß Jesus Christus einen Zwillingsbruder hatte?« Pierre lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
»Ja!« Von Rittenberg kaute in aller Ruhe zu Ende, bevor er weitersprach.
»Sehen Sie sich zum Beispiel diesen Abendmahlsaltar von Dierick Bouts aus dem 15. Jahrhundert an, dessen Kopie dort oben hängt.« Er riß ein Stück von seinem Brot ab. »Eigentlich hätte man ihn und diese anderen Ketzer damals auf den Scheiterhaufen bringen müssen ... um der Hygiene unseres Glaubens wegen. Aber meine Vorgänger in jener Zeit haben es vorgezogen einen anderen Weg zu wählen. Wie hätte es denn auch ausgesehen, wenn man einen Leonardo da Vinci verbrannt hätte ... nur weil der auf seinem Bildnis – über das Letzte Abendmahl – Jesus Christus einen Zwillingsbruder zur Seite gesetzt hat?«
»Die Herde der Gläubigen wäre danach bestimmt erst recht auf diese Idee mit den Zwillingen aufmerksam geworden!« ergänzte Pierre.
»Und genau das hätte Unruhe gebracht. Weil es leider Gottes unmöglich war, alle Maler jener Zeit zu bestrafen, hat die Kirche die Ketzer damals gewähren lassen und zwar in der Absicht, die Botschaft ihrer Bilder durch Nichtbeachtung auszulöschen.«
»Bis zu meinem Dienstantritt hier in Rennes und der Entdeckung der Bildersammlung im Turm der Bibliothek, war mir nichtbewußt, daß diese frevelhafte Vorstellung, daß Jesus einen Zwilling hatte, so weit verbreitet war.« Gott sei Dank hatte sich die Situation durch das angeregte Gespräch wieder entspannt.
»Ist das nicht phantastisch«, von Rittenberg goß sich Wein ein, »welch grandiose Arbeit meine Vorgänger geleistet haben? Diese Machwerke der Ketzerei hängen seit Jahrhunderten direkt vor den Nasen der Menschen«, er nahm einen kräftigen Schluck, »... und sie bemerken es nicht einmal. Weil sie nicht wissen, daß etwas da ist!«
»Dann glauben Sie also auch, daß die Kreuzigung ein Betrug war?« Pierre erwartete zwar nicht, daß von Rittenberg darauf antworten würde, aber diese Frage mußte er einfach loswerden.
»Mein lieber Junge!« Die graue Maus wischte sich unbeeindruckt ihre Hände ab und griff zu ihrem Notizbüchlein. »Wie ich Ihnen schon vorhin deutlich zu machen versuchte ... Ihre Vorstellungen von unserem christlichen Glauben sind einfach zu naiv.« Er blätterte wieder in diesem abgewetzten Büchlein und begann zu lesen. »›Ich, Jesus Christus, bin ihnen nicht unterlegen, so wie sie es geplant hatten ... ich bin nicht wirklich gestorben, ich tat nur so ...
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