Seelenfeuer
seine einzige Möglichkeit sein. Seine Hände zitterten vor Ungeduld, als er daran dachte, dass er in wenigen Stunden Luzia wiedersehen würde.
Doch nun galt es einen kühlen Kopf zu bewahren. Zuerst musste er mit ihr als Pesttote das Gefängnis verlassen. Kurz bevor die Stadttore geöffnet wurden, wechselte auch dort die Wache. Dann wurden die vielen Pestleichen, die die Knechte während der Nachtruhe neben den Toren abgelegt hatten, zu den Kalkgräbern gebracht. An den Durchgängen gab es dann immer ein Durcheinander, dachte Johannes. Ja, so musste es gehen! Er spürte, wie sein Mund trocken wurde. Seine Hände kribbelten vor Erregung. Noch konnte er nicht glauben, dass sein Vorhaben gutgehen würde. Was, wenn die anderen Wachen den alten Burger vorzeitig entdeckten? Wenn jemand Luzia erkannte? Aber was hatten sie schon zu verlieren außer ihrem Leben?
Johannes bückte sich zu dem Bettler hinunter.
»Ich danke dir für deine Hilfe! Aber sag mir, wie ist dein Name?«, fragte er sanft.
»Wenzel. Ich bin Wenzel«, entgegnete der Alte mit einem müden Lächeln.
»Warte hier!«, sagte Johannes und eilte ins Haus. Wenig später kam er mit einem kleinen Beutel voller Goldstücke zurück und reichte ihn Wenzel.
»Nimm diese Münzen. Es sind genug, damit du dir einen
Platz in der Armenstube des Spitals kaufen kannst. So musst du dein Lebtag nicht mehr frieren noch hungern.«
»Lasst es gut sein«, unterbrach ihn der Alte mit matter Stimme und gab den Beutel zurück. Er schnürte seinen grauen Kittel auf und entblößte seine Halsbeuge. Johannes konnte den Blick nicht von den dunklen Beulen wenden.
»Wenn Ihr mir etwas aus Eurem Zauberkasten geben könntet, wäre ich schon zufrieden«, gab der Bettler mit einem klugen Lächeln zurück. Ihm war der schmerzvolle Blick des jungen Arztes nicht entgangen.
Johannes schluckte schwer. »Ich könnte versuchen die Beulen zu behandeln. Einigen hat …«
»Vergesst es gleich wieder!«, entgegnete Wenzel entschieden. »Rettet die Jungfer vor dem Feuertod! Sie war immer mein guter Geist. Ich bin nicht traurig, wenn dieses arme Erdenleben ein Ende hat, denn dann darf ich die ganze Herrlichkeit Gottes schauen«, sagte der Alte zuversichtlich. »Zudem sind die Beulen auch in der Leiste und unter den Achseln.«
Erst als Johannes die Laterne zu Hilfe nahm, fiel ihm auf, dass der Schatten des Todes bereits deutlich über Wenzel schwebte. Der Medicus reichte dem alten Mann ein Fläschchen Mandragoraessenz und nickte ihm zu.
»Und das lindert den Schmerz?«, fragte der Bettler skeptisch.
»Damit kannst du ganz Ravensburg den Schlaf bringen. Ich führe mithilfe der Alraune regelmäßig Amputationen durch.«
Der Alte nickte schwach. Seine Stirn glänzte feucht und seine grünen Augen wirkten fiebrig.
»Wie lange habe ich noch Zeit?«
»Ein paar Stunden, höchstens einen Tag«, entgegnete Johannes sanft.
Wenzel packte die Flasche in seinen Beutel und zog sich zur Stalltür.
»Gott segne dich!«, sagte Johannes und reichte dem Alten die Hand.
Der lächelte müde. »Und Euch! Habt Dank für die Medizin und bestellt der Jungfer meine besten Wünsche.«
Als sich Wenzel auf seinen Händen über den Hof zog, wünschte Johannes dem alten Mann, dass sich seine Hoffnungen erfüllten und ihn ein besseres Dasein erwartete. Dann wandte er sich ab. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit, und er hatte noch sehr viel zu erledigen.
27
J ohannes’ Hände zitterten, als er den Schlüssel aus Michels Händen entgegennahm. Nichts deutete im reglosen Gesicht des Wachmanns darauf, dass auch er Luzias Leben retten wollte.
»Nehmt Euch in Acht vor der Hexe! Bisweilen dringt ihre Zauberkraft durch die verschlossene Tür!«, rief ihm Michel nach, als er sich bereits in der Mitte des düsteren Abgangs befand.
Johannes war zur fünften Stunde im Grünen Turm erschienen und nun stand er vor der einzigen Tür, die ihn noch von Luzia trennte. Wilde Freude erfasste sein Herz, und es gelang ihm erst nach mehrmaligem Versuch, den großen Schlüssel in das dunkle Schloss zu befördern. Als die schwere Tür endlich unter lautem Quietschen nachgab, schlug ihm feuchter, eiskalter Modergeruch entgegen. Er wollte jetzt nur noch Luzia in seine Arme reißen. Das schwache Licht seiner Pechfackel reichte nur wenige Schritte weit, aber was er sah, reichte aus, damit sich sein Herz zusammenkrampfte. Gewiss hatte er schon viel Leid gesehen, aber Luzias Anblick überstieg alles, was ihm je begegnet war. Sie lag zusammengerollt
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