Seelenfeuer
Jakob, es tut mir sehr leid, dass ihr diese Zeilen lesen müsst. Ich hätte sie euch gerne erspart! Aber es hilft alles nichts, also werde ich nicht lange um den heißen Brei herumreden. Luzia, deine Mutter ist gestorben.
Luzia merkte, wie die Buchstaben vor ihren Augen verschwammen. Wieder und wieder las sie dieselben Zeilen: Deine Mutter ist gestorben.
Luzia spürte Tränen in ihren Augen brennen. Mühsam versuchte sie den Kloß, der in ihrer Kehle saß, hinunterzuschlucken. Doch es gelang ihr nicht. Ein Schluchzen stieg in ihrer Kehle auf, sie ließ das Schreiben sinken, weil die Buchstaben vor ihren Augen verschwammen. Der Raum um sie herum schien sich zu drehen. Mit einem leisen Schrei war Elisabeth bei ihr und fing sie auf, als sie zu fallen drohte. Neben den besorgten Fragen ihrer Tante vernahm sie aus den Tiefen ihres Kopfes eine Stimme aus längst vergangenen Tagen. Luzia erkannte den Tonfall, das leise Zischen der einzelnen Laute sofort. Auf ihrem Rücken tobte ein Feuer. Brennender Schmerz erfasste ihre Schulterblätter und breitete sich immer weiter aus. Sie hatte das Gefühl von rinnendem Blut, welches ihr über Rücken und Gesäß bis weit zu den Beinen hinabfloss. Roter, wilder Zorn schlug über ihr zusammen und drohte sie
zu verbrennen. Spitze Gegenstände bohrten sich in ihre Knie. Harte Riemen schnitten schmerzhaft in ihre Handflächen. Dann wurde alles dunkel und still. Die Bewusstlosigkeit zog sie in die Tiefe.
Als Luzia die Augen aufschlug, wusste sie zunächst nicht, was passiert war. Sie fühlte sich matt und krank. Alle Kraft hatte ihren Körper verlassen.
Elisabeth hatte den Kopf ihrer Nichte in ihrem Schoß gebettet und streichelte ihre Wange. Jakob stand hinter seiner Frau und machte ein sorgenvolles Gesicht. »Komm, versuch dich aufzusetzen«, sagte Elisabeth sanft zu ihr. »Und dann trink einen Schluck.« Sie hielt ihr einen Becher heißen Weins mit den Blättern der Raute hin.
Luzia setzte sich an den Küchentisch und trank in kleinen Schlucken. Dabei ließ der Schwindel in ihrem Kopf etwas nach.
»Du hast das Bewusstsein verloren«, sagte Jakob. Seine Stimme klang fremd, irgendwie hölzern.
»Ich weiß nur noch, dass Mutter gestorben ist. Doch da war noch etwas anderes. Eine Stimme, die mir unbeschreibliche Angst gemacht hat. Fast vergessen, drang sie ungefragt in mein Bewusstsein. Die Nachricht von Mutters Tod war nur der Auslöser. Der Schlüssel für ein Schloss, das ich für immer verschlossen glaubte …« Luzia senkte hilflos den Kopf und begann wieder zu weinen. Ihre Mutter war tot, die Frau, die ihr das Leben geschenkt und die sie gleichzeitig gehasst hatte. Seit beinahe sechs Jahren hatte sie kein Wort mit ihr gewechselt. Sie hatte nicht die Gelegenheit gehabt, sich mit ihr auszusprechen.
Elisabeth nickte und tupfte ihre Tränen mit einem Zipfel ihrer Schürze fort.
Luzia fühlte sich unendlich leer. »Jakob, sei so gut und lies mir vor, was mein Onkel noch schreibt.«
Jakob nahm den Brief vom Tisch und begann mit ruhiger Stimme zu lesen.
Liebste Luzia, liebe Elisabeth, werter Jakob, es tut mir sehr leid, dass ihr diese Zeilen lesen müsst. Ich hätte sie euch gerne erspart! Aber es hilft alles nichts, deshalb werde ich nicht lange um den heißen Brei herumreden. Luzia, deine Mutter ist gestorben.
Es tut mir schrecklich leid, dass du erst unter diesen Umständen wieder einmal von mir hörst. Leider sehen wir uns viel zu selten. Um dir eine Sorge zu nehmen, habe ich die Verstorbene, wie ich hoffe, in deinem Sinne beerdigt. Hiermit möchte ich euch allen mein Beileid aussprechen. Mein Mitgefühl ist euch in diesen Stunden gewiss.
Luzia, nun zu dir. Ich habe mir Gedanken über deine Zukunft gemacht, wie es meine Pflicht ist.
Du solltest möglichst bald nach Ravensburg kommen, um das Grab deiner Mutter zu besuchen.
Deine Mutter Anna hat eine Hebammentasche zurückgelassen. Sie gehört jetzt dir. Entscheide selbst, was du brauchen kannst. Nachdem nun deine Mutter nicht mehr ist, fehlt unserer Stadt auch eine tüchtige Hebamme. Ich bin der festen Meinung, dass du ihre Nachfolge antreten solltest.
Ich kann mir denken, dass du mit Schrecken an deine Kindheit in Ravensburg zurückdenkst. Ich weiß, was Eusebius
Grumper dir angetan hat. Er ist nach wie vor als Kaplan und Notar in der Stadt tätig. Dennoch hoffe ich inständig, dass ich dich überzeugen kann, nach Ravensburg zurückzukommen. Auch an Grumper ist die Zeit nicht spurlos vorübergegangen, und auf meine
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