Seelenfeuer
Unterstützung kannst du zählen. Zudem hättest du als Hebamme die Möglichkeit, das Bürgerrecht zu erlangen. Dies würde deine Position stärken.
Nach einer kurzen Vorstellung bei unseren Stadtärzten, am besten bei Johannes von der Wehr, unserem jungen Wundarzt, könntest du die Stelle schon bald antreten. Von der Wehr ist ein äußerst liebenswürdiger Mann, er bereitet dir sicher keine Schwierigkeiten.
Liebe Luzia, ich bitte dich, meinen Vorschlag in deinem Herzen zu bedenken. Natürlich würdest du in meinem Haus wohnen, und ich würde für dein Wohlergehen sorgen und auf deinen Ruf achten. Seit Annegrets Tod ist das Haus so leer und für mich allein viel zu groß. Bitte überlege es dir, Ravensburg und ich freuen uns auf dich!
Mit den allerherzlichsten Grüßen,
euer aller Basilius. Im Jahre des Herrn 1483
»Wie du es auch drehst und wendest, Ravensburg eröffnet dir ungeahnte Möglichkeiten!«, sagte Elisabeth und nahm sich seufzend ein weiteres Hemd aus dem Korb vor ihr, bei dem es ein großes Loch zu stopfen galt. »Luzia, Kind, du musst diese Gelegenheit nutzen! Auch wenn deine Erinnerungen nicht die besten sind. Bedenke, heute bist du eine erwachsene Frau, kein hilfloses Kind mehr!«
Seitdem der Brief von Basilius eingetroffen war, redeten Elisabeth und Jakob mit Engelszungen auf ihre Ziehtochter ein, obwohl ihnen die Vorstellung, dass Luzia ihr Haus verlassen würde, Angst machte. Dennoch, eine solche Gelegenheit würde nicht wiederkommen! Elisabeth wusste, sie durfte jetzt nicht an sich denken.
Luzia sollte Hebamme in einer der größten Städte der näheren Umgebung werden. Nur Konstanz, das sich auf der anderen Seite des Sees befand, zählte mehr Einwohner als Ravensburg.
Und so wurde beschlossen, dass Luzia zum Herbst hin Seefelden verlassen und ihr neues Leben in Ravensburg beginnen sollte. Viel zu schnell gingen ihre letzten Wochen in der Fischergasse vorüber, und nun war schon der Tag des Abschieds gekommen.
Noch heute Abend würde sie in das große Apothekerhaus ihres Onkels in der Marktstraße einziehen und fortan in Ravensburg wohnen. Matthias würde sie nach dem Achtuhrläuten mit ihren Habseligkeiten nach Ravensburg bringen.
In den vergangenen Tagen waren Luzias Gedanken oft nach Ravensburg, die Stadt an der Schussen, gewandert. Sie erinnerte sich noch genau an den Tag, als sie das erste Mal ohne die Mutter Basilius’ Apotheke betreten hatte. Sicher war sie auch vorher schon öfter dort gewesen. Dennoch hatte sich dieser Besuch eindeutig von den vorherigen unterschieden. Luzia hatte nicht vergessen, wie sehr sie sich bemüht hatte, die kleinen Buchstaben auf den vielen großen und kleinen Gefäßen in den mannshohen Regalen zu entziffern. Zuerst hatte sie gedacht, sie hätte über Nacht das Lesen verlernt. Dann hatte der Kaplan vielleicht doch recht gehabt? Weibliche
Wissbegier außerhalb einer Klostermauer stellte für ihn eine schwere Sünde des von Natur aus schwachen und dummen Weibes dar. Immer hatte der Kaplan haarscharf zwischen ihr und den anderen Buben und Mädchen der Klasse unterschieden. Die wenigen anderen Mädchen waren äußerst widerwillig und gelangweilt zur Schule gekommen. Für sie war die Welt in Ordnung gewesen, wenn sie nähen und sticken durften. Der Umgang mit den Buchstaben war ihnen im Gegensatz zu Luzia sehr schwergefallen. Sie aber war aus freien Stücken gekommen. Lesen und Schreiben waren ihr in den Schoß gefallen. Für sie hatte es schon damals nichts Spannenderes gegeben, als die Welt zu verstehen, deshalb hatte sie immer viel zu viele Fragen gestellt. Schulmeister Grumper hatte ihre unbändige Fragelust unbarmherzig mit dem Stock oder dem Riemen bestraft. Freilich, auch die Buben hatte er bestraft, wenn auch nur für ihre frechen Antworten. Doch ihnen hatte der Schulmeister allenfalls den Hosenboden strammgezogen und das auch immer während des Unterrichts. Für Luzia hatte er sich etwas Besonderes ausgedacht. Sie hatte nach dem Unterricht im Kämmerchen neben dem Schulraum zu erscheinen. Noch heute glühten ihre Wangen vor Scham, wenn sie daran dachte.
Sie hatte so viele Strafen für ihre Wissbegier hingenommen, und jetzt konnte sie die Worte auf den vielen Behältern nicht lesen. Erst Basilius’ Erklärung, dass es sich hierbei um Latein, die Sprache der Gelehrten, handele, hatte Luzia zumindest ein bisschen versöhnlicher gestimmt. Zumindest hatte sie das Lesen nicht verlernt.
Schnell zog Luzia die wackelige Tür zur Schlafkammer
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