Seelenfeuer
er antwortete: »Wir verehren Hermes.«
Sie kommen aus Ägypten! Mera nickte befriedigt. Sie war selbst Ägypterin und daher innig vertraut mit Hermes, dem Heilsgott. Rasch neigte sie sich über die Frau und machte das Zeichen des Kreuzes des Hermes, wobei sie Stirn, Brust und Schultern der Liegenden berührte. Dann richtete sie sich wieder auf und bekreuzigte sich selber. Hermes war ein mächtiger Gott.
Es war eine schwierige Geburt. Das Becken der jungen Frau war schmal; immer wieder schrie sie vor Schmerzen. Der Mann kniete fürsorglich an ihrer Seite, drückte ihr ein feuchtes Tuch auf die Stirn und hielt ihre Hände, während er in dem Dialekt des Niltals, den Mera selbst vor vielen Jahren gesprochen hatte, leise auf sie einredete. Wie süße Musik trafen die Worte Meras Ohren. Ich bin zu lange fort gewesen, dachte sie, während sie sich bemühte, dem Ungeborenen ins Leben zu helfen. Vielleicht gewährt mir die Göttin vor meinem Tod einen letzten Blick auf meinen grünen Strom …
»Es ist ein Junge«, sagte sie endlich und sog sachte an Näschen und Mund des Kindes.
Der Römer neigte sich zu ihr, und sein Schatten fiel über den Säugling wie eine schützende Decke. Die junge Frau, von den Wehen erlöst, seufzte tief auf. Nachdem Mera die Nabelschnur verknotet und abgeschnitten hatte, legte sie das Kind an die Brust der Mutter und sagte leise: »Du mußt ihm jetzt seine Namen geben. Schütze ihn, Mütterchen, damit der Wüstendschinn ihn nicht stehlen kann.«
Die junge Frau drückte die aufgesprungenen Lippen an das rosige kleine Ohr und flüsterte den Seelennamen ihres Sohnes, der nur ihm und den Göttern bekannt sein würde. Und danach sagte sie laut, wenn auch mit schwacher Stimme, seinen Lebensnamen: »Helios.«
Befriedigt wandte sich Mera wieder ihrer Arbeit zu. Doch während sich draußen das Pfeifen des Windes zu wildem Geheul steigerte und Türen und Läden klapperten, sah sie im ungewissen Licht etwas, das sie erschreckte. Ein blaugeädertes Händchen schob sich durch den Geburtskanal.
Ein Zwilling!
Wieder schlug sie das Kreuz des Hermes und schickte ihm das heilige Zeichen der Isis nach, um sich für die zweite Geburt bereitzumachen. Sie hoffte aus tiefstem Herzen, daß die junge Frau die Kraft besaß, sie durchzustehen.
Nun schien es wahrhaftig, als rüttelten die Dschinn an der Tür, um die zwei neuen Leben zu rauben, so schrill heulte der Sturm. Meras Häuschen, aus festen Lehmziegeln, zitterte und bebte, als wollte es jeden Augenblick einstürzen. Die junge Frau schrie mit dem Wind. Ihre Wangen brannten fiebrig; ihr Haar war feucht von Schweiß. Besorgt legte Mera ihr ein Amulett um den Hals, einen aus Jade geschnitzten Frosch, das heilige Tier der Hekate, Göttin der Hebammen.
Sonderbarerweise hatte das Neugeborene, das noch immer an der Brust seiner Mutter lag, bisher keinen Laut von sich gegeben.
Endlich gelang es Mera, das zweite Kind ins Licht zu holen. Mit tiefer Erleichterung sah sie, daß es lebte. Doch während sie dabei war, die Nabelschnur zu durchschneiden, hörte sie neben dem Heulen des Windes andere Geräusche. Mit einem Ruck hob sie den Kopf und sah, daß der Römer zur Tür starrte.
»Pferde«, sagte er. »Soldaten.«
Gleich darauf erschütterten donnernde Schläge die Tür. Das war nicht jemand, der um Einlaß bat, das waren Leute, die die Tür aufbrechen wollten.
»Sie haben uns gefunden«, sagte er.
Blitzschnell war Mera auf den Beinen. »Komm!« zischte sie und rannte zu der schmalen Tür am Ende des einzigen Raumes im Haus. Sie blickte nicht zurück, sah nicht die rotgekleideten Soldaten, die hereinstürmten. Ohne zu überlegen tauchte sie in die Finsternis des Vorratsschuppens, der sich an ihr Haus anlehnte, und kletterte, das neugeborene kleine Mädchen naß und nackt an ihr Herz gedrückt, in den Maistrog, wo sie sich unter Hülsen und Blättern so klein wie möglich zusammenrollte. Kaum atmend lag sie in der Finsternis und lauschte den schweren Tritten auf dem Fußboden aus festgetrampelter Erde: ein kurzer Wortwechsel in griechischer Sprache, eine scharfe Frage, der eine kurze Antwort folgte, ein pfeifendes Zischen zerschnitt die Luft, zwei Schreie, dann Stille.
Mera schauderte. Der Säugling in ihren Armen zitterte. Wieder hörte sie die schweren Schritte. Sie näherten sich dem Schuppen. Durch die Ritzen im Trog sah sie ein Licht. Dann hörte sie die Stimme des vornehmen Römers, schwach und atemlos. »Es ist niemand hier, sage ich euch. Die Hebamme
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