Seelenfeuer
war nicht im Haus. Wir sind allein. Ich – ich selbst habe das Kind geholt …«
Zu ihrem Entsetzen begann das Kind in ihren Armen zu wimmern. Hastig legte sie ihre Hand auf das kleine Gesichtchen und flüsterte: »Gesegnete Mutter, Königin des Himmels, laß nicht zu, daß dieses Kind getötet wird.«
Sie hielt den Atem an und lauschte wieder. Nun war nichts mehr um sie herum als Dunkelheit und Stille, und draußen das Pfeifen des Windes. Sie wartete. Das Kind an ihre Brust gedrückt, lag Mera eine Ewigkeit, wie ihr schien, im Maistrog. Ihr Körper begann zu schmerzen, das Kind wurde unruhig. Aber sie mußte in ihrem Versteck aushalten.
Endlich glaubte Mera eine Stimme zu hören. »Frau!« klang es schwach zu ihr herüber.
Vorsichtig richtete sie sich auf. In der Düsternis vor Tagesanbruch konnte Mera nur undeutlich die verkrümmte Gestalt auf dem Boden des Zimmers erkennen.
Wieder rief der Römer schwach: »Frau, sie sind fort …«
Glieder und Muskeln schmerzten, als sie aus dem Trog stieg und zu dem Mann hinüberging, der blutüberströmt auf dem Boden lag. »Sie haben sie mitgenommen«, stieß er hervor. »Meine Frau und meinen Sohn …«
Entsetzt blickte Mera zu der leeren Matte hinüber.
Der Römer hob zitternd einen Arm. »Meine Tochter … laß mich …«
Sie kamen, um den Vater zu töten, ging es Mera durch den Kopf, während sie dem sterbenden Mann den nackten Säugling in die Hände gab. Und doch haben sie Mutter und Sohn lebend mitgenommen. Warum?
»Ihre Namen«, stöhnte der Mann. »Ich muß ihr ihre Namen geben, ehe …«
Mera schob den Kopf des Säuglings dicht an seinen Mund und sah, wie seine Lippen den geheimen Namen formten, der das geistige Band eines Kindes zu den Göttern war, und den wegen seines mächtigen Zaubers kein Sterblicher hören durfte. Dann sprach er laut ihren Lebensnamen: »Selene. Sie heißt Selene …«
»Und jetzt laß mich deine Wunden versorgen«, sagte Mera sanft, aber er verneinte mit einem Kopfschütteln. Und sie sah, warum: Der Römer lag in unnatürlicher Haltung hingestreckt.
»Bring sie von hier fort«, flüsterte er. »Sofort. Noch heute nacht. Sie dürfen sie nicht finden. Versteck sie. Sorge für sie. Sie kommt von den Göttern.«
»Aber wer bist
du?
Was soll ich ihr sagen, wer ihre Eltern sind, welcher Familie sie angehört?«
Er schluckte krampfhaft. »Dieser Ring – gib ihn ihr, wenn sie älter ist. Er wird ihr – alles sagen. Er wird sie zu dem führen, was ihr bestimmt ist. Sie gehört den Göttern …«
Der Römer starb, als Mera ihm den schweren goldenen Ring vom Finger streifte, und im selben Moment begann das Kind – Selene – zu weinen.
Mera sah zu ihm hinunter und entdeckte mit Schrecken, daß der Mund nicht normal gestaltet war – ein kleiner Geburtsfehler. Aber plötzlich begriff sie: Es war das Zeichen dafür, daß dieses Kind in der besonderen Gunst der Götter stand. Der Römer hatte die Wahrheit gesprochen: Dieses kleine Mädchen stammte in der Tat von den Göttern ab.
Erstes Buch
Antiochien in Syrien
1
Selene überquerte gerade den Marktplatz, als das Unglück geschah. Sie kam nur selten in diesen Teil der Stadt, die nördliche Vorstadt mit ihren breiten Prachtstraßen und den Häusern der Reichen, und war an diesem heißen Julitag nur hierhergekommen, um ein Geschäft aufzusuchen, das seltene Heilkräuter verkaufte. Ihre Mutter brauchte Bilsenkraut für einen Schlaftrank. Was Mera nicht in ihrem Kräutergarten ziehen oder auf dem großen Markt der Unterstadt kaufen konnte, mußte ihr Selene bei Paxis, dem Griechen, besorgen. So kam es, daß sie gerade in dem Moment über den Marktplatz ging, als dem Teppichhändler der Unfall zustieß.
Selene sah, wie es geschah. Der Mann hatte mehrere Teppiche auf dem Rücken seines Esels festgezurrt und bückte sich, um das herabhängende Stück Strick aufzuheben, da schlug das Tier plötzlich aus und traf den Händler mit schwerem Schlag seitlich am Kopf.
Selene riß einen Moment erschrocken die Augen auf, dann lief sie zu dem Verunglückten. Achtlos ließ sie ihren Korb samt seinem kostbaren Inhalt fallen, kniete neben dem Bewußtlosen nieder und legte seinen Kopf auf ihren Schoß. Er blutete stark, und sein Gesicht war aschgrau.
Einige Vorüberkommende blieben stehen und schauten neugierig, aber keiner machte Anstalten zu helfen. Selene sah zu den Umstehenden auf.
»H-hilfe!« rief sie. »Er ist v-v-v- …« Angestrengt verzog sie das Gesicht, während sie sich
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