Seelenfeuer
Sklave ruft dich, wenn ich fertig bin.«
Aber sie schüttelte den Kopf und blieb.
Er maß sie mit einem flüchtigen Blick der Verwunderung, ehe er sich wieder seiner Aufgabe widmete. »Zuerst müssen wir feststellen, ob ein Bruch vorliegt.« Er sprach das Griechisch des gebildeten Mannes, das Selene in ihrem Viertel selten zu hören bekam. »Und um die Bruchstelle zu finden, tragen wir das hier auf …«
Während Andreas eine dicke schwarze Paste auf den geöffneten Schädel gab, trat Selene näher. Fasziniert beobachtete sie die Bewegungen der langen, schlanken Finger. Nachdem Andreas die Paste einen Moment hatte einwirken lassen, nahm er sie wieder ab.
»Da«, sagte er und wies auf eine schwarze Linie im Schädelbein. »Da ist der Bruch. Siehst du, wie der Knochen da eingedrückt ist? Er drückt auf das Gehirn. Wenn der Druck nicht beseitigt wird, stirbt der Mann.«
Selene war wie gebannt. Sie half ihrer Mutter seit Jahren bei der Versorgung der Kranken und Verletzten und hatte in dieser Zeit viel gesehen und gelernt, aber noch nie hatte sie eine solche Operation miterlebt.
Andreas ergriff ein Instrument, das ganz ähnlich aussah wie der Drillstab, den Selene und ihre Mutter benutzten, um Feuer anzufachen. »Malachus«, befahl er dem Sklaven, »halte ihn mir ruhig bitte.«
Staunend sah Selene zu, wie Andreas’ Hände in ruhigem, gleichmäßigem Rhythmus den Bohrer benutzten und Malachus die Wunde ab und zu mit Wasser auswusch. Schließlich legte Andreas das Instrument aus der Hand.
»Da ist es, das Ei, das ihn getötet oder für immer gelähmt hätte«, sagte er.
Selene sah es. Eingebettet wie in einem Nest, lag das Ei des bösen Geistes, der in den Huf des Esels gefahren war, zwischen Schädeldecke und Gehirn. Sie war tief beeindruckt. Wenn man Mera Menschen mit Kopfverletzungen brachte, pflegte sie den Patienten einen Breiumschlag aus Opium und Brot aufzulegen, sprach ein Gebet, gab ihm ein Amulett und ließ ihn wieder fortbringen. Die meisten Patienten mit derartigen Verletzungen starben. Selene wartete mit großer Spannung, ob sie jetzt ein Wunder erleben würde.
Andreas nahm ein Instrument, das aussah wie eine stumpfe Pflanzkelle, schob es vorsichtig unter die Schädeldecke und hob den auf das Gehirn drückenden Knochen an. Augenblicklich stieß der Mann einen tiefen Seufzer aus, sein Gesicht bekam Farbe, seine Atemzüge wurden tiefer.
Andreas arbeitete mit höchster Konzentration. Sein Gesicht wirkte streng durch die steile Falte, die sich zwischen den zusammengezogenen Brauen gebildet hatte. Die Lippen unter der großen, gebogenen Nase waren zu einer dünnen Linie zusammengepreßt, der Unterkiefer, durch einen kurzgestutzten braunen Bart konturiert, war angespannt. Selene meinte, er müsse etwa dreißig Jahre alt sein, obwohl sich im dunklen Haar an seinen Schläfen schon erste graue Fäden zeigten.
Er hob das Ei unversehrt heraus, doch zugleich strömte viel Blut aus der Wunde. Ohne sich davon beirren zu lassen, arbeitete Andreas ruhig und schweigend weiter. Sein Gesicht war ernst, doch es zeigte keine Furcht. Und doch glaubte Selene, er müsse jeden Augenblick die Instrumente hinwerfen und rufen: »Es ist nicht zu schaffen.«
Doch Andreas arbeitete unbeirrt, Augen, Hände, seine ganze Geisteskraft auf den Patienten konzentriert. Seine unerschrockene Entschlossenheit rief bei Selene tiefen Respekt hervor.
Endlich ließ die Blutung nach, und Andreas legte die Instrumente aus der Hand. Er säuberte die Wunde mit Wein, füllte die Öffnung mit angewärmtem Bienenwachs und zog dann die Ränder der Kopfhaut zusammen. Als er sich dann die Hände wusch, sagte er zu Selene: »Wenn er innerhalb von drei Tagen wieder zu Bewußtsein kommt, wird er am Leben bleiben. Wenn nicht, wird er sterben.«
Selene sah ihm einen Moment lang in die Augen und wünschte, sie könnte die vielen Fragen, die in ihrem Kopf herumschwirrten, in klare Worte fassen.
Plötzlich schrie der Mann auf dem Bett auf und begann, mit den Armen um sich zu schlagen. Der Sklave Malachus, der damit beschäftigt gewesen war, den Kopf zu verbinden, sprang zurück.
»Ein Anfall«, sagte Andreas und eilte zum Bett. Er versuchte, die Arme des Mannes zu fassen, doch es gelang ihm nicht. »Hol Stricke«, befahl er Malachus. »Und bring Polibus mit. Wir brauchen Hilfe.«
Der Bewußtlose wälzte und wand sich unter wilden Zuckungen auf dem Bett wie ein vom bösen Geist Besessener. Andreas mühte sich, ihn zu halten, um zu verhindern, daß er
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