Seelenfeuer
behalte, wie? Ich nehme keine Patienten in meinem Haus auf. Das ist nicht die Aufgabe des Arztes. Ich habe ihn behandelt. Jetzt ist es Aufgabe seiner Familie, für seine Genesung zu sorgen.«
Selenes Gesicht zeigte Verzweiflung. »A-aber ich k-kenne seine F-familie nicht.«
Andreas starrte sie ungläubig an. War es möglich, daß diesem Kind das Los eines wildfremden Menschen am Herzen lag? Wieso war sie nicht gleichgültig wie alle anderen? Wann war er das letztemal einem Menschen von solcher Naivität begegnet? Seit Jahren nicht; nicht mehr seit den Tagen in Korinth, als er in der Wasserfläche eines Weihers sein eigenes Spiegelbild betrachtet und das Gesicht eines unreifen Jungen gesehen hatte, eines noch kindlichen, bartlosen Knaben auf der Schwelle zur Ernüchterung.
Andreas zügelte den aufsteigenden Zorn. An dieser Schwelle stand jetzt dieses Mädchen, das noch arglos war und unverdorben. Sie hatte auf dem Marktplatz angehalten und ihre Schüchternheit überwunden, um einem Menschen zu helfen, den sie nicht kannte.
Selene sah den Ausdruck auf seinem Gesicht, und eine Frage, die sie schon lange beschäftigte, meldete sich wieder. Es war eine Frage, die allem Anschein nach nicht zu lösen war: Was tat man mit den Kranken und Verletzten, wenn sie behandelt waren, aber noch nicht wieder gesund?
Immer wieder erlebte es Selene im Haus ihrer Mutter: Fremde kamen zu ihr, um sich behandeln zu lassen, und hatten dann keinen Menschen, der sie pflegen konnte. Es waren Menschen, die allein lebten, Witwen ohne Verwandte, Invaliden, die sich zurückgezogen hatten. Alle diese behandelte Mera, aber danach war niemand da, der sich um sie kümmerte. Ach, und auf den Straßen! Besonders in dem schmutzigen Viertel am Hafen, wo die Kinder sich in Horden herumtrieben, wo Prostituierte in finsteren Gassen ihre Kinder gebaren, wo namenlose Matrosen von Krankheit befallen wurden und auf dem kalten Pflaster starben. Diese Menschen waren dem Tod ausgeliefert, weil sie niemanden hatten, dem ihr Wohl am Herzen lag, weil es für sie keinen Ort gab, wo sie Zuflucht finden konnten.
Selene sagte: »B-bitte, k-kannst du ihn nicht …«
Andreas sah sie stumm an, während er sich im stillen Vorwürfe machte, daß er sich auf diese Geschichte eingelassen hatte. Aber dann wurde er weich unter ihrem flehenden Blick.
»Also gut«, sagte er endlich. »Ich werde Malachus zum Marktplatz schicken, damit er sich dort erkundigt. Vielleicht kennt dort jemand den Mann. Inzwischen –« Andreas griff nach seiner weißen Toga und legte sie sich über die Schulter – »kann er hier in der Unterkunft meiner Sklaven bleiben.«
Selene lächelte dankbar.
Sie hatte etwas sehr Anziehendes, dachte Andreas, das nicht zu definieren war. Ganz sicher kam sie nicht aus wohlhabendem Hause – ihr Gewand ließ auf ärmliche Verhältnisse schließen. Und wie alt mochte sie sein? Noch nicht sechzehn; sie trug noch das kniekurze Kleid des Kindes. Aber der Tag, an dem sie die Stola und die Palla der Frau anlegen würde, war wahrscheinlich nicht mehr fern. Wieder wanderte Andreas’ Blick wie unwiderstehlich angezogen zu ihrem schönen Mund, der süße Sinnlichkeit verhieß. Und wieder dachte er an den blutroten Hibiskus, den er einmal gesehen hatte. Der volle, rote Mund verlieh dem Gesicht einen exotischen, stark verführerischen Zug, einen Reiz, dem man sich kaum entziehen konnte. Übel hatten die Götter ihr mitgespielt, daß sie diesen Mund, ihre schönste Gabe an das Mädchen, zugleich zum lähmenden Makel gemacht hatten. Es war, als wollten sie der Schönheit des Mädchens spotten. Er fühlte sich unerklärlich angerührt von diesem Schicksal.
Impulsiv fragte er: »Was hast du auf dem Markt verloren?«
»B-bilsenkraut«, antwortete sie und hob zwei Finger, um die Menge zu zeigen.
Andreas wandte sich an Malachus. »Gib ihr, was sie braucht. Und einen Korb dazu.«
»Ja, Herr«, antwortete der Sklave erstaunt und trat zu einem Bord mit einer Reihe von Behältern.
Andreas’ Gesicht wurde wieder streng, der dunkle, grüblerische Ausdruck kehrte zurück, der ihn älter wirken ließ, doch seine Stimme war gütig. »Sei in Zukunft vorsichtig, wem du hilfst. Im Hause des Nächsten bist du vielleicht nicht so sicher wie hier.«
Errötend nahm Selene den Korb entgegen, den Malachus ihr reichte, dankte Andreas und eilte hinaus.
Er stand da und lauschte dem Klang ihrer sich entfernenden Schritte. Dann schüttelte er den Kopf. Ein ungewöhnlicher Nachmittag! Zuerst
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