Seelenfeuer
hatte er einen Fremden operiert, der ihn wahrscheinlich nie dafür bezahlen würde, dann hatte er das Mädchen, dem er das zu verdanken hatte, mit einem Vorrat der teuersten Medizin fortgeschickt. Und als Gegenleistung hatte er nichts erhalten – hatte nicht einmal, wie ihm plötzlich bewußt wurde, ihren Namen erfahren.
2
»Da! Siehst du, Tochter?« flüsterte Mera, und Selene neigte sich näher, um mit dem Auge dem Weg des bronzenen Spekulums zu folgen, das den Weg zum Muttermund offenhielt. »Das ist der Muttermund«, murmelte Mera. »Das segensreiche Tor, durch das wir alle in die Welt eintreten. Siehst du den Faden, den ich vor Monaten um den Muttermund geschlungen habe, als er sich zu öffnen drohte, noch ehe das Kind ausgereift war? Paß gut auf, was ich jetzt tue.«
Selene staunte immer wieder über das Wissen und die Weisheit ihrer Mutter. Mera schien ihr alles zu wissen, was es über Geburt und Leben zu wissen gab. Sie kannte die Kräuter, die bei Frauen, die sich Kinder wünschten, die Fruchtbarkeit erhöhten, sie wußte um die Salben, mit denen die Empfängnis verhütet werden konnte; sie kannte die Mondzyklen und die günstigen Tage für Empfängnis und Geburt; sie wußte, welche Amuletts dem Ungeborenen den besten Schutz gaben; sie verstand sich sogar darauf, bei Frauen, die aus gewissen Gründen kein Kind bekommen durften, Abtreibungen vorzunehmen, ohne ihr Leben oder ihre Gesundheit zu gefährden. Erst an diesem Nachmittag hatte Selene zugesehen, wie Mera einen Bambusspan in den Schoß einer Schwangeren eingeführt hatte, deren Gesundheit so zart war, daß sie eine Geburt nicht überlebt hätte. Der Bambusspan, hatte Mera erklärt, würde, in den Muttermund eingeführt, die Körperflüssigkeit der Schwangeren aufsaugen, sich dabei ausdehnen, so daß der Muttermund sich öffnen mußte.
Die Frau, der Mera und Selene an diesem Abend im letzten Stadium der Wehen beistanden, war eine junge Frau, die im vergangenen Jahr drei Fehlgeburten erlitten hatte und nahe daran gewesen war, alle Hoffnung auf ein Kind aufzugeben. Ihr junger Ehemann, ein Zeltmacher, der unbedingt Söhne wollte, die später einmal das Geschäft weiterführen konnten, war von seinen Brüdern bedrängt worden, eine Scheidung ins Auge zu fassen, damit er sich eine neue Frau nehmen könne.
Darum war die junge Frau im zweiten Monat ihrer Schwangerschaft, voller Angst, auch dieses Kind zu verlieren, zu Mera gekommen. Es war ihre letzte Hoffnung gewesen. Und Mera hatte den Muttermund zugenäht. Dann hatte sie der jungen Frau den ganzen Winter und Frühling hindurch Bettruhe verordnet.
Nun waren die neun Monate um. Die junge Frau lag auf ihrem Bett, und an ihrer Seite kniete besorgt und ängstlich ihr Mann, der Zeltmacher.
»Jetzt müssen wir vorsichtig sein«, sagte Mera leise. »Halt die Lampe ruhig, Tochter. Ich will jetzt den Faden durchschneiden.«
Jedes Wort, das ihre Mutter sagte, jede Bewegung, die sie machte, prägte sich Selene ins Gedächtnis ein. Seit ihrem dritten Lebensjahr, seit sie zwischen dem heilsamen Blatt der Minze und dem tödlichen des Fingerhuts unterscheiden gelernt hatte, arbeitete und lernte Selene an der Seite ihrer Mutter. Auch an diesem Abend hatte sie ihr, sobald sie im Haus des Zeltmachers angekommen waren, bei den Vorbereitungen geholfen. Sie hatte das heilige Feuer der Isis entzündet, die kupfernen Instrumente in seinen Flammen erhitzt, um die bösen Geister der Infektion auszutreiben, hatte zu Hekate gebetet, der Göttin der Geburtshilfe, und sie gebeten, dieser jungen Mutter beizustehen, und hatte schließlich die Laken und Tücher, die das Neugeborene aufnehmen sollten, zurechtgelegt.
Danach hatte sich Mera an die Arbeit gemacht, nachdem sie sich vorher sorgfältig die Hände gewaschen hatte. Ihr scharf geschnittenes Gesicht wirkte wie aus schwarzen und braunen Flächen herausgemeißelt.
Während die junge Frau stöhnend die Hände ihres Mannes umklammerte, führte Mera mit ruhiger Hand eine lange Zange über die Furche des Spekulums und faßte das Ende des Fadens mit den feinen Kupferzähnchen. Dann ergriff sie das lange Messer und wartete ab.
Die Gebärmutter war in lebendiger Bewegung. Bei jeder Kontraktion wurde der Kopf des Ungeborenen an den verschlossenen Muttermund gedrückt. Die junge Frau schrie auf und versuchte, die Hüften zu heben. Mehrmals mußte Selene die Lampe in neue Position bringen; sie hielt das Spekulum ruhig für ihre Mutter. Nur eine dünne Wand aus weichem Fleisch
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