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Seelenfeuer

Seelenfeuer

Titel: Seelenfeuer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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trennte das scharfe Messer vom zarten Köpfchen des ungeborenen Kindes.
    »Halt sie fest und ruhig«, befahl Mera dem bleichen Ehemann. »Ich muß jetzt schneiden. Ich kann nicht länger warten.«
    Selene klopfte das Herz bis zum Hals. Ganz gleich, wie vielen Geburten sie beiwohnte, nie würde sie sie als etwas Alltägliches ansehen können. Jede Geburt war anders; jede war von ihren eigenen Elementen der Gefahr begleitet, jede war ein neues Wunder. Dieses Kind lief Gefahr, im Mutterschoß zu ersticken, an seinen vergeblichen Anstrengungen, ins Leben hinauszufinden, zu sterben.
    Die Stadt außerhalb des Hauses des Zeltmachers lag still in der heißen Sommernacht. Die Bewohner der blühenden Handelsstadt Antiochien schliefen, viele auf den Dächern ihrer Häuser, während Mera, die ägyptische Heilerin, ihre wunderbare Arbeit verrichtete.
    Die Augen des jungen Ehemannes waren starr vor Angst. Schweiß glänzte auf seiner Stirn. Selene lächelte ihm zu, um ihn zu beruhigen, und berührte sachte seinen Arm. Manchmal litten die Männer bei einer Geburt so sehr wie ihre Frauen, erschüttert und hilflos angesichts dieses größten Mysteriums. Selene hatte erlebt, wie Männer am Bett ihrer gebärenden Frau ohnmächtig geworden waren; die meisten zogen es vor, draußen im Freien zu warten, am liebsten in der Gesellschaft von Freunden. Dieser junge Mann war ein guter Ehemann. Unverkennbar geängstigt und von dem Wunsch geplagt, schleunigst das Weite zu suchen, blieb er dennoch bei seiner Frau und bemühte sich, ihr in dieser schweren Stunde beizustehen.
    Selene berührte nochmal leicht seinen Arm, um ihn zu trösten. Er sah sie an, schluckte einmal krampfhaft und nickte.
    Meras Auge war ruhig. Ihr Rücken war starr, ihre Brust hob und senkte sich kaum unter ihren Atemzügen. Eine falsche Bewegung mit dem Messer jetzt, und alles war verloren.
    Plötzlich erschlaffte die Gebärmutter einen Augenblick, und sie sah, wie der Kopf des Ungeborenen zurückwich. Mit einem raschen Schnitt durchtrennte sie den Faden.
    Die junge Frau schrie auf. Mera entfernte eilig die Instrumente und machte sich für die Geburt bereit. Selene trat an die Seite des Bettes, kniete nieder und drückte der jungen Frau ein feuchtes Tuch auf die Stirn. Die Wehen kamen jetzt so rasch hintereinander, daß kaum Raum zum Verschnaufen blieb. Selene legte ihre Hände um den Kopf der Frau, schloß die Augen und beschwor die Seelenflamme herauf. Worte des Trostes und der Ermutigung konnte sie nicht bieten: sie war mit der Gabe der leichten, besänftigenden Rede, die anderen Heilerinnen geschenkt war, nicht gesegnet. Aber in ihrem Schweigen sprachen ihre Hände für sie. Ihre langen, kühlen Finger strahlten Ruhe und Kraft aus.
    Die junge Frau stieß einen letzten wilden Schrei aus, dann glitt das Kind in Meras wartende Hände, ein gesunder Knabe, der sofort kräftig zu schreien anfing. Alle lachten, am lautesten der erleichterte Ehemann, der selig seine Frau in die Arme schloß.
    Zur zweiten Nachtwache endlich kehrten Mera und Selene in ihr eigenes Haus zurück. Während Mera zu einem Schrank ging, um sich etwas zu trinken zu holen, machte sich Selene daran, die Instrumente zu waschen und die Vorräte in Meras Kräutertöpfen aufzufüllen.
    Sie war müde, aber erregt, mit ihren Gedanken nicht bei der Arbeit, während sie Mutterkorn und weiße Nieswurz sortierte. Statt dessen weilte sie in Gedanken wieder in der prächtigen Villa in der Oberstadt, wo an diesem Nachmittag Andreas, der Arzt, ein Wunder vollbracht hatte.
    Sie sah ihn so klar und deutlich vor sich, als stünde er im Schein der Lampe vor ihr: das lockige dunkelbraune Haar, das ihm weich in die Stirn fiel; die goldene Borte seiner weißen Tunika, unter der die muskulösen Beine hervorsahen; die langgliedrigen Hände. Wieder sah sie in die graublauen Augen, die in so scharfem Gegensatz zum strengen Ausdruck seines Gesichts standen. Und sie fragte sich, was Andreas zugestoßen war, das ihn so hart gemacht hatte.
    Selene warf einen Blick auf ihre Mutter, die sich am Schrank zu schaffen machte, und überlegte, ob sie mit ihr über Andreas sprechen konnte. So vieles wollte sie wissen. Neue, unbekannte Gefühle regten sich in ihr, die sie verwirrten. Sie verstand nicht, warum sie sich nicht auf ihre Arbeit konzentrieren konnte. Ganz gleich, wie sehr Selene sich bemüht hatte, all ihr Denken auf ihre jeweilige Aufgabe zu richten, immer hatte das schöne Gesicht des griechischen Arztes sich

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