Seelenfeuer
neuen Städten hatte zurechtfinden müssen, und die Liebe ihr nur in unpersönlichen Umarmungen mit Männern begegnet war, deren Namen sie vergessen hatte. Nahezu dieses ganze harte Leben lang hatte sie darüber gerätselt, worin ihre Bestimmung lag, und hatte darauf gewartet, daß die Göttin ihr offenbaren würde, warum sie Mera zur Heilerin von Seele und Körper berufen hatte.
Warum war ihr dieses Kind anvertraut worden? War ihr ganzes Leben nur Vorbereitung auf die Betreuung dieses elternlosen kleinen Mädchens gewesen? Selene selbst war von einem Geheimnis umgeben, das die in vieler Hinsicht so weise und kundige Mera nicht zu ergründen vermocht hatte.
Bescheiden war das dem Kind zugedachte Vermächtnis, das Mera aus dem Häuschen in Palmyra mitgenommen hatte: ein Ring, eine Locke vom Haar des ermordeten Römers, ein kleines Stück von dem Leintuch, das den neugeborenen Zwillingsbruder aufgenommen hatte. Zeichen, in denen Selenes Identität eingeschlossen war.
Was diese Zeichen bedeuteten, hatte Mera nie zu entschlüsseln vermocht. Doch sie hatte sie sicher aufbewahrt für den Tag, an dem sie sie Selene übergeben würde; das Mädchen selbst mußte sich dann auf die Suche machen.
In sicherem Gewahrsam in einem kleinen Kästchen lag eine Elfenbeinrose. Mera hatte sie vor Jahren in der Stadt Byblos von einem dankbaren Patienten als Bezahlung erhalten. Sie hatte die Größe einer Pflaume, ein vollkommenes Kunstwerk aus edelstem Elfenbein geschnitzt. Innen war sie hohl, und darin hatte Mera den Ring, die Haarlocke und das Leinenfetzchen verwahrt. Im Lauf der Jahre hatte sie die Elfenbeinrose ab und zu aus dem Kästchen genommen, um sie Selene zu zeigen und sie mit Nachdruck auf ihren unermeßlichen Wert hinzuweisen. Aber als Selene wissen wollte, was denn im Herzen der Rose verborgen sei, hatte Mera ihr geantwortet, das würde sie erst erfahren, wenn sie älter sei, an ihrem sechzehnten Geburtstag, dem Tag, an dem sie sich, wie alle Mädchen, dem Wandlungsritual unterziehen würde, das sie vom Mädchen zur Frau machen würde.
Und was soll ich ihr an diesem Tag sagen? fragte sich Mera, während sie zusah, wie Selene den Medizinkasten an seinen Platz stellte. Ich werde ihr die Wahrheit sagen müssen, daß ich nicht ihre leibliche Mutter bin.
Wieder dachte Mera an jene Nacht vor nunmehr fast sechzehn Jahren. Wieder erinnerte sie sich der überstürzten Flucht aus dem Häuschen, das fünf Jahre lang ihr Heim gewesen war. Sie hatte in rasender Eile ihre Habseligkeiten – die Kräuter und Medizin, die Instrumente und die magischen Schriftrollen – in einen Kasten gepackt und war, mit dem Neugeborenen in einem Korb, den ihr alter Esel trug, nach Norden aufgebrochen. Es war eine lange und beschwerliche Reise gewesen, in Einsamkeit und Furcht. Sie hatte Haken geschlagen, um ihre Spur zu verwischen, für den Fall, daß rotgekleidete Soldaten ihnen folgten, und in Städten und Oasen nur lange genug Halt gemacht, um neue Kraft zu schöpfen, ehe sie weitergezogen war. Sie hatte sich westwärts reisenden Karawanen angeschlossen, das Wasser mit Wüstenbewohnern geteilt, in den Heiligtümern fremder Götter gebetet, bis sie endlich die blühende Stadt Antiochien erreicht hatte, die im grünen Schoß des Orontes-Tals eingebettet lag. Hier endlich hatten ihr die Sterne gesagt, daß ihre Wanderungen zu Ende waren; daß das Kind hier in Sicherheit sein würde.
Und so war es gewesen. Fast sechzehn Jahre lang hatte Selene in Antiochien Sicherheit und Geborgenheit genossen, während sie langsam herangewachsen war, bei Mera gelernt und ihr bis dahin einsames Leben mit warmer Liebe erfüllt hatte.
Nun würde es enden. Die Zeit war knapp, Mera spürte es beklemmend. In zwanzig Tagen sollte die erste Feier stattfinden – der bedeutungsvollste Tag im Leben eines Mädchens, wenn sie die Kinderkleider auszog und dafür die Stola anlegte, das lange Gewand der erwachsenen Frau, und den Hausgöttern eine Locke ihres Mädchenhaars zum Opfer brachte.
In den meisten Fällen endete die Einkleidung mit einem großen Fest, dem Freunde und Verwandte beiwohnten; Selene jedoch würde sich noch einem weiteren Ritual unterziehen müssen. In der ersten Vollmondnacht nach ihrem Geburtstag, in achtundzwanzig Tagen, wie Mera errechnet hatte, würde Selene von ihrer Mutter in die naheliegenden Berge hinaufgeführt werden, um dort in die höheren Mysterien eingeweiht zu werden.
Mera hatte Selene alles gelehrt, was sie von der Heilkunde wußte –
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