Seelenflüstern (German Edition)
auf einer Bank liegt – und du sagst, ich mache dir Angst? Glaubst du wirklich, du würdest noch so fröhlich hier sitzen, wenn ich irgendwelche fiesen Absichten hätte? Ich könnte mich problemlos auf dich stürzen, und kein Mensch würde dich schreien hören. Wenn ich dir wehtun wollte, wäre das schon passiert.«
Während er ein Stück weit den Weg entlanglief, der mitten durch den Friedhof führte, blieb ich beim Tor auf dem Boden sitzen. Alden fuhr sich mit der Hand durchs Haar, dann ließ er sich auf die niedere Backsteinmauer sinken, hinter der die Gräber des Südostteils lagen. Wegrennen hatte keinen Zweck; Alden würde mich mit ein paar Schritten einholen. Er sah mich nicht mehr an, sondern starrte stur an mir vorbei. Gut. Ich zerrte Dads Gitarre wieder zurück durch die Gitterstäbe und setzte mich bequemer hin.
Alden hatte wohl wieder recht. Mein schlimmster Feind war ich selbst. Mom würde mir auf der gesamten Heimfahrt sicher das Gleiche sagen und es bis zur Haustür mehrfach wiederholen. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.
Der Mond stand nun höher am Himmel und strahlte noch heller. Aldens Augenfarbe konnte ich trotzdem nicht erkennen, aber er hatte halblanges hellbraunes, vielleicht sogar blondes Haar. Im silbrigen Mondlicht war das schwer zu sagen. Sein kantiges Gesicht gefiel mir, und wenn er nicht der verrückte, unheimliche Geisterboy gewesen wäre, hätte ich ihn wahrscheinlich ziemlich heiß gefunden. Das musste ich zugeben.
»Schon besser«, murmelte er vor sich hin.
»Was ist besser?«
»Du bist nicht mehr so angespannt. Aber du glaubst mir immer noch nicht. Stimmt’s?«
»Stimmt. Du redest nämlich einen Höllenquatsch daher. Und was soll das heißen, ich bin nicht mehr so angespannt?«
»Ich spüre, wie deine Seele offener wird und Gefühle zulässt. Zwischen uns gibt es eine Verbindung. So habe ich dich gefunden. So kann ich dich beschützen.«
Er spürte meine Gefühle? Seltsame Vorstellung. Darüber musste ich erst mal nachdenken. Inzwischen hatte meine Angst vor ihm sich etwas gelegt, und ich war fast sicher, dass er die Geschichte mit den Fürsprechern und den gestrandeten Seelen tatsächlich selbst glaubte.
»Tut mir leid, Lilian«, flüsterte er. »Für mich ist das alles ziemlich verwirrend, aber für dich ist es sicher auch nicht einfach. Ich werde versuchen, ein bisschen mehr Geduld zu haben. Entschuldige, dass ich dich so angefahren habe. Aber ich konnte nicht riskieren, dass dir etwas passiert.«
Ich setzte mich ihm gegenüber auf eine zweite Mauer. Zwischen uns lag der schmale Weg, der durch den Friedhof führte. Die Grabsteine in der Umgebung waren größtenteils verwüstet, die Fenster der Mausoleen mit Brettern vernagelt. Sie saßen ziemlich tief an den kleinen Gebäuden. Und die Türen waren sehr niedrig.
»Was ist das hier eigentlich? Ein Friedhof für Zwerge? Die Türen sind sicher nicht mal einen Meter hoch.« Ich zupfte ein Blatt von einer Ranke, die aus einer Mauerspalte wucherte.
Alden lachte leise. »Nein. Das liegt an dem Sturm, von dem ich dir erzählt habe.«
Ich drehte das Blatt und faltete es der Länge nach zusammen. »Du meinst den Sturm, bei dem ich in einem früheren Leben angeblich gestorben bin?«
»Ja.« Er lächelte.
Verrückter Geisterboy. Ich verdrehte die Augen. »Und die Leute waren damals nur halb so groß wie wir?«
»Nein. Nach dem Sturm wurde der Boden aufgeschüttet. Der untere Teil der Gebäude liegt fast einen Meter tief unter der Erde. Die Grabsteine sehen ganz normal groß aus, weil man sie oben auf die neu aufgehäufte Erde gestellt hat. Die Mausoleen konnte man aber nicht anheben.In Ufernähe gibt es Gegenden, die heute fünf Meter höher liegen als um 1900.«
Meine Finger falteten aus dem Blatt ein kleines Akkordeon. »Kam das durch den Sturm?«
»Nein. Das waren die Menschen. Nach dem Hurrikan wurde eine Schutzmauer gebaut, dann pumpte man Sand und Schlamm aus der Bucht und dem Hafen auf die Insel. Einige Gebäude wurden sogar wie mit riesigen Wagenhebern hochgewuchtet, damit man den Boden unter ihnen auffüllen konnte. Das war ziemlich beeindruckend.«
»Woher weißt du das alles?«
»Ich war dabei.« Er stand auf.
In diesem Moment ließ ich den Blattfächer fallen und sprang von der Mauer. »O nein. Du bleibst, wo du bist.«
»Ich bin nicht verrückt, Rose … Lilian. Ich kann es beweisen.« Als er auf mich zukam, schaltete mein Herz in den Turbomodus.
»Lass meine Seele in deinen Körper. Nur ganz kurz.
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