Seelenflüstern (German Edition)

die Arbeitsplatte sehen zu können. In ihren Mundwinkeln hingen Kekskrümel.
    »Mag Charlotte denn Saft?«, fragte ich.
    »Früher schon.«
    »Hm-hm.« Mit dem Fuß schob ich die Kühlschranktür zu und stellte ein paar Saftkartons auf das Tablett. »Können wir kurz über Charlotte reden, bevor wir zu ihr raufgehen?«
    Izzy warf die goldenen Locken zurück und stemmte die Hände in die Hüften.
    »Sie ist nicht eingebildet!«
    »Das weiß ich. Ich will meine Fragen bloß nicht stellen, wenn sie dabei ist. Okay?«
    »’Kay.« Izzy kletterte auf den Hocker neben Alden, der seinen Teil dazu beitrug, dass Charlotte keine zerbrochenen Kekse essen musste.
    »Kannst du Charlotte sehen, Izzy?«, fragte ich.
    »Nein. Sie redet bloß mit mir. Aber sie ist echt!«
    »Das glaube ich dir. Es gibt öfter Dinge, die wir nicht sehen, obwohl sie echt sind. Geht sie manchmal mit dir woanders hin?«
    »Nein. Sie hat Angst. Sie bleibt lieber in meinem Zimmer.«
    Ich nickte. »Was glaubst du – warum ist sie bei dir?«
    Izzy stopfte sich ein Stück Keks in den Mund. »Weil sie sich alleine fürchtet. Hat sie mir gesagt. Und ich hab meinen Puppen gesagt, sie müssen auf sie aufpassen, wenn ich weg bin.« Izzy schob Aldens Hand beiseite, damit er ihr nicht mit einer Serviette den Mund abwischen konnte.
    »Aha«, sagte ich.
    Izzy vertilgte noch einen Keksbrocken.
    »Los.« Ich nahm das Tablett. »Zeit für ein gemütliches Kaffeekränzchen.«
    Vor Izzys Tür blieben wir stehen. »Willst du Charlotte sagen, dass du Besuch mitbringst?«, fragte ich.
    Izzy verschwand in ihrem Zimmer. Ich drückte das Ohr an die geschlossene Tür und winkte Alden zu mir her. »Hörst du das, Alden?«
    »Ich höre nur Izzy vor sich hin brabbeln.«
    Ich grinste. »Und ich höre zwei völlig verschiedene Stimmen. Ganz eindeutig.«
    Charlottes Erlösung war nicht schwer. Sie war eine liebenswerte Dame um die achtzig und zeigte sich überglücklich, dass Frauen in den USA seit 1920 wählen durften. So stand es seit damals in der Verfassung. Charlotte hatte einen Großteil ihres Erwachsenenlebens für das Frauenwahlrecht gekämpft. Als ich ihr sagte, dass längst weibliche Abgeordnete in beiden Häusern des Kongresses und als Ministerinnen im Kabinett säßen und dass es weibliche Präsidentschaftskandidatinnen gab, freute siesich unbändig. Aber ihre letzten Zweifel verschwanden erst, als Alden ihr eine aktuelle Tageszeitung zeigte.
    »Dann ist meine Aufgabe tatsächlich erfüllt«, sagte Charlotte.
    »Du hast wirklich Großes geleistet«, sagte ich. »Gibt es noch etwas, das du zu Ende bringen willst, bevor du deinen Weg weitergehst?«
    »Ich würde gerne Elizabeth umarmen.«
    »Elizabeth, ist es okay, wenn Charlotte dich mit meinen Armen drückt?«
    Das kleine Mädchen nickte und klatschte aufgeregt in die Hände.
    Ich bot Charlotte meinen Körper an, um ihren letzten Wunsch in Erfüllung gehen zu lassen. Sie musste eine sehr stolze Frau gewesen sein, denn sobald sie in mir war, zwang sie mich, kerzengerade zu stehen. Bevor sie etwas sagte, räusperte sie sich in meiner Kehle. Ihre Stimme war klangvoll und viel tiefer als meine. »Lass nicht zu, dass man dir etwas verweigert, was dir zusteht, Elizabeth. Lass dich niemals unterbuttern. Koste es, was es wolle.« Dann nahm sie Elizabeth in meine Arme. »Danke, dass ich bei dir sein durfte.«
    »Bist du nun bereit, deinen Weg weiterzugehen, Charlotte? Ich helfe dir heraus«, sagte Alden. Er saß auf Izzys Bett.
    »Ja bitte, junger Mann. Ich bin jetzt so weit.«
    Alden berührte meine Schulter, drang ein und schob Charlotte sanft hinaus. In einem langen Rock und einer plissierten gestreiften Bluse stand sie vor uns. Dann schloss sie die Augen und lächelte, während ein heller weißer Lichtstrahl sie umhüllte.
    Charlotte war tatsächlich eine Gestrandete, murmelte Alden. Warum habe ich das nicht gemerkt?
    »Warum hat sie sich Izzy ausgesucht? Ist Izzy eine Seelenflüsterin?«, fragte ich.
    Nein. Die sind ziemlich selten. Vermutlich fühlte Charlotte sich von mir angezogen. Manchmal halten sich Gestrandete in der Nähe von Wächtern auf, weil sie wissen, dass dort früher oder später auch ein Seelenflüsterer auftaucht. Fast alle Kinder können, wenn sie sich konzentrieren, gestrandete Seelen hören. Aber die wenigsten haben dafür die nötige Ruhe.
    Izzy ging zu Aldens leerem Körper und nahm seine leblose Hand. Ängstlich sah sie ihm ins Gesicht.
    Zeit, zurückzugehen. Sonst bringen wir Izzy wirklich völlig aus