Seelengesaenge
mühsam aus dem Gerüst. Schläuche und Kabel rissen aus ihren Sockeln und Stutzen im unteren Rumpfbereich, und gewaltige Mengen Kühlflüssigkeit, Wasser und kryogenischer Treibstoff verdampften in der zylindrischen Landebucht. Nachdem das Raumschiff sich aus dem Gerüst befreit hatte, erfaßte der Abgasstrom die Streben und Träger und zerschmolz sie in Sekundenschnelle zu wertlosem Abfall. Der Andockschlauch streckte sich bis an die Grenzen seiner Belastbarkeit, dann riß auch er aus dem Ring um die Luftschleuse und zog Datenkabel, Sicherungsbolzen und Streben mit.
»Was, zur Hölle, machen Sie da, Duchamp?« fragte die aufgebrachte Stimme der Raumkontrolle. »Schalten Sie augenblicklich Ihre Antriebe ab!«
Die Villeneuve’s Revenge erhob sich auf einem Flammenschweif strahlender Ionen aus dem Dock. Ringsum schmolzen Wände und Träger wie Butter in der Sonne. André war sich nur schwach der massiven Schäden bewußt, die sein überhasteter Start verursachte. Das Raumschiff allein zu steuern erforderte seine volle Konzentration. Die strategischen Plattformen des Culey-Asteroiden hatten ihn längst im Visier, doch André wußte, daß sie niemals feuern würden, nicht, solange er noch so nah war. Hektisch befahl er sämtlichen offenen Luken, sich zu verriegeln.
Rings um die Landebucht detonierten die kryogenischen Speichertanks unter dem unaufhörlichen Ansturm sonnenheißer Abgase. Es war eine Kettenreaktion, die gewaltige Wolken von weißem Dampf und herumwirbelnden Wrackteilen in alle Richtungen sandte. Unter der Wucht der Explosionen brach die gesamte Konstruktion zusammen. Die Dämpfungsmechanismen der Trägerspindel wurden bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit getestet, als sie die gewaltige Stoßwelle ausgleichen wollten, die sich entlang dem Gerüst fortsetzte.
Schließlich erreichte die Wellenfront der Tankexplosionen auch die Villeneuve’s Revenge. Splitter und Wrackteile durchbohrten den Rumpf an einem Dutzend Stellen, und das Schiff wurde kräftig durchgeschüttelt. Doch dann schloß sich ringsum ein Ereignishorizont, und die Villeneuve’s Revenge war verschwunden.
Gerald Skibbow war erst zum dritten Mal in der Messe, einem großzügigen halbrunden Raum, der in den Felsen des Guyana-Asteroiden geschnitten war. Breite Glastüren führten auf eine Veranda hinaus, von wo man einen wunderbaren Ausblick auf die zweite Habitatkaverne genießen konnte. Trotz der sichtlich entspannten Atmosphäre war die Messe das Zentrum des geschlossenen medizinischen Sanatoriums der Navy, obwohl die Sicherheitsmaßnahmen so unauffällig wie möglich gehalten waren. Personal und Patienten vermischten sich zwanglos und schufen etwas, von dem die Ärzte hofften, daß es den Kranken dienlich war und die durch Traumen, Streß und – in mehreren Fällen – intensive Verhöre verletzten Insassen dazu brachte, wieder mit ihrer Umwelt zu interagieren. Jedermann war frei zu kommen und zu gehen, wann immer er wollte, sich in einen der großen bequemen Sessel zu setzen, die Aussicht zu genießen, einen Drink oder einen Imbiß zu sich zu nehmen oder eines der einfachen Spiele zu spielen, die überall herumlagen.
Gerald Skibbow mochte die Messe nicht. Die künstliche Biokaverne des Asteroiden war zu fremdartig, die Zykloramalandschaft beunruhigte ihn, und die kostspielige moderne Ausstattung erinnerte ihn an die Arkologie daheim auf der Erde, der zu entkommen er sich viele Jahre gesehnt hatte. Gerald haßte Erinnerungen.
Seine gesamte Familie bevölkerte die Erinnerungen, und sie waren der einzige Ort, an dem sie noch existierte.
Die ersten Tage nach seiner Persönlichkeitsextraktion hatte er seine Gefängniswärter angefleht, diese Erinnerungen mit ihren Apparaten zu löschen – entweder das oder den Tod. Die Nanoniken waren noch immer in seinem Schädel vergraben, und es hätte sie die geringste aller Mühen gekostet, ihn von der Last der Erinnerungen zu befreien, ihn zu reinigen, eine Woge von heftigen Impulsen, und die Vergangenheit wäre verschwunden gewesen.
Doch Dr. Dobbs hatte nur freundlich gelächelt und den Kopf geschüttelt, und dann hatte er gesagt, daß sie Gerald heilen wollten und ihn nicht noch weiter schikanieren.
Nach und nach hatte Gerald gelernt, dieses freundliche Lächeln zu verabscheuen, zusammen mit der Unnachgiebigkeit, die sich dahinter verbarg. Sie verdammte ihn zu einem Leben inmitten eines schrecklichen Wirbels von Bildern: das Gehöft in der Savanne von Lalonde, das Lachen, das
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