Seelengesaenge
erschöpfte Glück, das am Ende jeden Tages auf ihn gewartet hatte, die Tage selbst, angefüllt mit einfachen Dingen – kurz: die einzige Zeit seines Lebens, in der er glücklich gewesen war. Und indem Gerald sich erinnerte, wußte er, was er alles verloren hatte und niemals wiederbekommen würde. Er war zu der Überzeugung gelangt, daß die Militärs von Kulu ihn absichtlich in seine eigenen Erinnerungen tauchten, um ihn für seine Beteiligung am Ausbruch der Possession zu bestrafen. Es konnte keinen anderen Grund geben, warum sie sich weigerten, ihm zu helfen. Sie gaben ihm die Schuld, und sie wollten, daß er sich daran erinnerte. Genau wie daran, daß er nichts hatte, nichts war, nichts wert war und jeden Menschen im Stich gelassen hatte, für den er jemals etwas empfunden hatte. Erinnerungen, die ihn in einer Endlosschleife festhielten, einer Schleife, die ihm immer wieder sein Versagen vor Augen führte.
Seine restlichen Wunden, physische Verletzungen aus der Begegnung mit Jenny Harris und ihren Soldaten, waren mit Hilfe von nanonischen Medipacks gezielt und effizient behandelt worden – obwohl auf seinem Gesicht und seinem Kopf frische Narben zu sehen waren, weil er einige Tage zuvor versucht hatte, sich die geliebten Gesichter aus dem Gehirn zu kratzen. Seine Fingernägel hatten die Haut durchbohrt, um zum Schädelknochen vorzudringen und ihn aufzureißen, so daß seine geliebte Familie endlich entkommen konnte und ihn frei zurückließ. Die starken Krankenpfleger hatten sich auf ihn gestürzt, und Dr. Dobbs’ ewiges Lächeln hatte mit einem Mal sehr traurig gewirkt. Dann hatten sie ihm Chemikalien eingeflößt, die ihn müde gemacht hatten, und zusätzliche Stunden auf der behaglichen Couch des Psychiaters, wo er hatte erzählen müssen, wie er sich fühlte. Es hatte nichts genutzt. Wie auch?
Gerald setzte sich auf einen der großen Hocker an der Theke und bat um eine Tasse Tee. Der Steward lächelte und sagte: »Sehr wohl, Sir. Ich bringe Ihnen auch gleich ein paar Biskuits dazu.«
Tee und Biskuits trafen auf einem Tablett ein. Gerald schenkte sich ein und mußte sich konzentrieren, um nichts zu verschütten. Seine Reaktionen waren nicht besonders gut, und seiner optischen Wahrnehmungsfähigkeit schien es an Tiefe zu fehlen. Flach, zweidimensional und teilnahmslos – also war es vielleicht die Welt, die nicht in Ordnung war, und nicht er.
Er stützte die Ellbogen auf das polierte Holz des Tresens, nahm die Tasse in beide Hände und nippte bedächtig. Seine Blicke wanderten über die zahlreichen verzierten Teller und Tassen und Vasen in der Vitrine hinter der Bar. Absolut uninteressant, aber wenigstens hielt es ihn davon ab, aus dem Fenster zu sehen und sich mit dem gottlosen schwindelerregenden Anblick der Biosphärenkaverne auseinanderzusetzen. Das erste Mal, als sie ihn in die Messe geführt hatten, war er über die Veranda in die Tiefe gesprungen. Sie befand sich schließlich hundertfünfzig Meter über dem Boden. Zwei der anderen Insassen hatten gelacht und ihn angefeuert, als er sich über das Geländer geschwungen hatte – und von einem Netz aufgefangen worden war. Dr. Dobbs hatte verständnisvoll gelächelt und gewartet bis das Netz nicht mehr geschwankt hatte, und ihn dann wieder nach oben gezogen.
Am entgegengesetzten Ende des Tresens stand ein Holoschirm, auf dem Nachrichten liefen (Wahrscheinlich ein zensiertes Programm – die Insassen würden sicher nichts zu sehen bekommen, was strittig war). Gerald rutschte ein paar Hocker weiter, um den Kommentar zu hören. Der Sprecher, ein attraktiver silberhaariger Mann, verlas die Nachrichten in gemessenem Tonfall – und lächelte selbstverständlich. Das Bild wechselte und zeigte eine Aufnahme von Ombey, aus einem niedrigen Orbit heraus geschossen, mit dem Kontinent Xingu in der Mitte. Eine langgestreckte Halbinsel am unteren Rand der Landmasse leuchtete in merkwürdigem Rot, das sich deutlich von den Grün- und Brauntönen des restlichen Landes abhob. Es war, wie Gerald aus den Worten des Sprechers entnahm, eine unerklärliche Anomalie, die ganz Mortonridge einhüllte. Unglücklicherweise bedeutete diese Anomalie, daß niemand imstande war zu erkennen, was darunter geschah. Quellen der Königlichen Navy von Kulu zufolge entsprach sie dem Dysfunktionsphänomen, das auf der Heimatwelt der Laymil beobachtet worden war, doch die gleichen Quellen betonten, daß die Besessenen keine Chance hatten, Ombey aus dem Universum zu entfernen, ganz gleich,
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