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Seelengesaenge

Seelengesaenge

Titel: Seelengesaenge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter F. Hamilton
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versuchte hinüberzuspringen. »Marie!« Der Steward rannte mit ausgestreckten Armen auf ihn zu. »Marie! Mein Baby!« Wegen seiner benebelten Sinne hatte Gerald seinen Sprung vollkommen falsch eingeschätzt. Krachend landete er hinter dem Tresen auf dem Boden. Der Steward fand gerade noch Zeit für einen erschrockenen Ausruf, bevor Gerald ihm vor die Füße fiel und er stolpernd ebenfalls zu Boden ging. Ein hilfloses Rudern mit den Armen sandte einen ganzen Stapel Gläser auf die harten Kacheln.
    Gerald schüttelte die Glassplitter aus den Haaren und warf den Kopf in den Nacken. Marie war noch immer dort oben über ihm, und sie lächelte noch immer einladend und schüchtern zugleich. Das Lächeln galt ihm. Sie wollte zurück zu ihrem Daddy.
    »MARIE!« Er rappelte sich im gleichen Augenblick auf die Beine, als die beiden Krankenpfleger am Tresen eintrafen. Der erste der beiden packte Gerald am Hemd und zerrte ihn vom Holoschirm weg. Gerald wirbelte außer sich vor Wut herum und holte zu einem wilden Schlag aus. Das Selbstverteidigungsprogramm des Krankenpflegers aktivierte sich. Es hatte größte Mühe, mit der heftigen, unerwarteten Attacke fertig zu werden. Muskeln bäumten sich unter den abrupten Überlagerungsbefehlen auf und ließen ihn dem Hieb ausweichen. Die Reaktion reichte trotzdem nicht. Geralds Faust traf ihn mit voller Wucht an der Schläfe. Es war ein Schlag von einem Mann, dessen Körperkräfte von Monaten harter physischer Arbeit gestählt waren. Der Krankenpfleger wurde gegen seinen Partner geschleudert, und beide gingen zu Boden.
    Überall in der Messe ertönten Gelächter und wilde anfeuernde Rufe. Irgend jemand hob eine der schweren Kübelpflanzen hoch und warf sie auf eine der abgelenkten Krankenschwestern. Eine Alarmsirene schrillte los. Mehrere Krankenpfleger zerrten ihre Kortikalstörer aus den Halftern.
    »Marie! Mein Kleines! Hier bin ich!« Gerald hatte endlich den Holoschirm erreicht und preßte das Gesicht gegen das kühle Plastik. Sie grinste und flirtete nur Zentimeter von ihm entfernt, eine Gestalt, die ganz aus einem winzigen Gitter kleiner leuchtender Kugeln zusammengesetzt war. »Marie! Laß mich rein! Marie!« Er hämmerte auf den Schirm. »Marie!«
    Sie verschwand. Der schicke Nachrichtensprecher lächelte ihn an. Gerald kreischte gequält auf und fing an, mit all seiner Kraft auf den Holoschirm einzuhämmern. »Marie! Komm zurück, Marie! Komm zurück zu deinem Daddy!« Blut von Geralds aufgeplatzten Knöcheln rann über das gebräunte Gesicht des Sprechers.
    »Ach du lieber Gott!« knurrte der erste Krankenpfleger. Er richtete seinen Kortikalstörer gegen Gerald und betätigte den Abzug. Gerald erstarrte, dann fingen seine Glieder heftig an zu zittern. Ein langgezogener klagender Laut entwich seinen Lippen, und er brach zusammen wie vom Blitz getroffen. Er schaffte es gerade noch, ein letztes, klägliches »Marie!« auszustoßen, bevor ihn Bewußtlosigkeit umfing.

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14. Kapitel
     
    Angesichts der milden Form von Paranoia, die unter den Plutokraten Tranquilitys herrschte, war es nur verständlich, daß unter anderem die medizinischen Einrichtungen des Habitats niemals an Geldmangel litten und Empfänger großzügiger Spenden waren. Als Konsequenz – und in diesem Fall glücklicherweise – gab es stets eine gewisse Überkapazität. Nach zwanzig Jahren der chronischen Unterbelegung war die pädiatrische Abteilung der Prinz-Michael-Gedächtnisklinik zum ersten Mal randvoll, eine Situation, die tagsüber auf dem breiten Korridor einen ständigen Aufruhr nach sich zog.
    Als Ione die Klinik besuchte, jagte die Hälfte der Kinder von Lalonde über Betten, Tische und Stühle. Das Geschrei dabei war ohrenbetäubend. Sie spielten Besessene und Söldner, und anders als in der Realität gewannen stets die Söldner. Die beiden feindlichen Gruppen jagten an Ione vorbei, ohne zu wissen oder sich darum zu kümmern, wer die fremde Frau war (ihre übliche Eskorte aus Serjeants war draußen geblieben). Ein sichtlich mitgenommener Dr. Giddings, Chefarzt der pädiatrischen Abteilung, erblickte den prominenten Besuch als erster und eilte herbei. Er war Ende zwanzig, und Überschwang und schlaksige Gestalt vereinigten sich zum Bild eines hektischen, gehetzten Mannes, wann immer er den Mund öffnete. Sein Gesicht war ein wenig rundlich, was ihm ein ansprechendes, jungenhaftes Aussehen verlieh. Ione wunderte sich, ob er sich vielleicht chirurgischer Mittel bedient hatte – dieses Gesicht war so

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