Seelengesaenge
unglaublich vertrauenerweckend für jedes Kind; ein großer Bruder, mit dem man über jedes noch so wichtige Geheimnis reden konnte.
»Ma’am! Es tut mir unendlich leid!« sprudelte er hervor. »Wir hatten nicht die geringste Ahnung, daß Sie zu Besuch kommen.« Er bemühte sich, seinen weißen Kittel zu schließen und sah sich dabei gereizt in der Station um.
Überall lagen Kissen und Bettzeug verstreut, farbenfrohe Animatik-Puppen watschelten umher und plapperten munter immer die gleichen Sätze oder lachten fröhlich. (Wahrscheinlich Verschwendung, dachte Ione, keines dieser Kinder kennt die Idole der diesjährigen AV-Shows.)
»Ich denke nicht, daß es mich beliebter machen würde, wenn Sie die Kinder für mich hätten aufräumen lassen«, erwiderte Ione mit einem Lächeln. »Außerdem beobachte ich sie bereits seit einigen Tagen. Ich bin nur aus einem einzigen Grund hier, um mich zu überzeugen, daß sie sich auf dem richtigen Weg befinden.«
Dr. Giddings musterte sie mit einem verängstigten Blick und fuhr sich mit den Fingern durch das widerborstige rötliche Haar. »O ja, sie gewöhnen sich rasch an die neuen Umstände. Aber Kinder sind ja immer leicht zu bestechen: Nahrung, Spielsachen, Kleidung, Ausflüge in den Park, alle möglichen Arten von Spielen, die man im Freien spielen kann … Diese Methode hat noch nie versagt. Soweit es die Kinder betrifft, befinden sie sich hier in einem richtigen Paradies.«
»Spüren sie denn kein Heimweh?«
»Nicht wirklich. Ich würde es eher als Sehnsucht nach den Eltern beschreiben. Die Trennung verursacht einige psychische Probleme, aber das ist natürlich.« Er deutete in die Runde. »Wie Sie sehen, tun wir unser Bestes, um sie zu beschäftigen; auf diese Weise haben sie nicht soviel Zeit, um über Lalonde nachzudenken. Mit den Jüngeren ist es am leichtesten. Ein paar der älteren Kinder sind doch relativ widerspenstig und neigen zu düsterer Stimmung. Aber ich glaube nicht, daß es sich um etwas Ernstes handelt. Jedenfalls nicht kurzfristig.«
»Und langfristig?«
»Die einzige wirkliche Medizin wäre, sie zurück nach Lalonde und zu ihren Eltern zu schaffen.«
»Das muß noch warten, Doktor, fürchte ich. Aber Sie haben wunderbare Arbeit geleistet, das steht ganz außer Frage.«
»Danke sehr, Ma’am«, murmelte Dr. Giddings.
»Gibt es sonst noch etwas, das ich für Sie oder die Kinder tun könnte?«
Dr. Giddings verzog das Gesicht. »Nun ja, abgesehen von Freya und Shona sind inzwischen alle körperlich wieder gesund, doch auch die beiden genesen rasch dank der nanonischen Behandlung. In spätestens einer Woche sind sie ebenfalls wieder die alten. Wie ich bereits andeutete, das einzige, was ihnen wirklich fehlt, wäre eine starke Familie, bei der sie Halt und Sicherheit finden. Vielleicht könnten Sie um Aufnahme in Gastfamilien bitten? Ich bin sicher, wir fänden genügend Freiwillige.«
»Ich werde Tranquility veranlassen, eine entsprechende Ankündigung vorzubereiten, und dafür sorgen, daß sie in den Nachrichten gebracht wird.«
Dr. Giddings lächelte erleichtert. »Das ist sehr freundlich von Ihnen, Ma’am. Wir hatten bereits Sorge, daß wir niemanden finden würden, aber wenn Sie persönlich hinter uns stehen …«
»Ich tue mein Bestes, Doktor«, erwiderte Ione leichthin. »Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mich ein wenig umsehe?«
»Nur zu, bitte sehr.« Halb verbeugte er sich, halb stolperte er.
Ione wanderte den Mittelgang hinunter und wich einem aufgeregten dreijährigen Mädchen in einem leuchtend gelben Hemdchen aus, das mit einem dicken Animatikfrosch tanzte und schmuste. Aus der Doppelreihe von Betten hatte sich eine wahre Lawine von Spielsachen auf den Mittelgang ergossen. Holomorphe Aufkleber zierten die Wände und Möbel, und Comicgestalten erhoben sich aus der Oberfläche und durchliefen ihren programmierten Bewegungsablauf. Es sah aus, als sei der Polyp selbst mit Regenbogenmustern überzogen. Ein blauhäutiger Kobold war offensichtlich der Liebling der Kinder: Er bohrte unablässig in der Nase und schnippte widerlich gelbe Popel nach jedem, der vorbeikam. Nirgendwo waren medizinische Apparate sichtbar; alles war unauffällig in den Wänden eingebaut oder in Schränken neben den Betten verborgen.
Das andere Ende des Ganges weitete sich zu einem Speisesaal mit einem langen Tisch, der für alle gleichzeitig Platz bot. In den runden Wänden befanden sich zwei große ovale Fenster, die einen wunderbaren Ausblick über die
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