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Seelengift

Titel: Seelengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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würde sehen.
     
    Es war totenstill in seinem Laden, als er aufschloss. Kein Geräusch. Überhaupt kein Geräusch. Er lauschte angestrengt. Hatte sie sich befreien können? Lauerte sie ihm irgendwo auf? Er drückte auf den Schalter, und im Ladenraum flammte das Licht auf. Die Regale wie immer, alles aufgeräumt, ordentlich. Und still. Schnell schaltete er das Licht wieder aus. Gut möglich, dass durch die Rollläden ein Lichtschimmer auf die Straße drang. Das wäre verdächtig um diese Zeit. In der Teeküche konnte er dagegen gefahrlos das Licht anschalten. Dort gab es keine Fenster.
    Sie saß dort, wo er sie zurückgelassen hatte: an der Wand neben der Heizung, den Mund noch immer ordentlich mit Paketband zugeklebt, Arme und Beine mit Kabelbindern verschnürt. Nein, nicht ganz am selben Fleck, offenbar hatte sie die Beine bewegt. Der Stuhl war umgefallen, der Tisch etwas verschoben. Weiter war sie nicht gekommen. Er nickte befriedigt, gut, dass er ihre Hände an der Heizung festgebunden
hatte. Man konnte ja nie wissen. Zwar hatte sie nicht gut ausgesehen, als er gegangen war, aber das mochte nichts heißen. Frauen waren zäh. Viel zäher als Männer. Und er hatte recht behalten. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.
    Jedenfalls war sie nicht tot. Sie hatte den Kopf zu ihm gedreht, als er das Licht angeschaltet hatte, und jetzt starrte sie ihm ins Gesicht, mit weit aufgerissenen Augen, ohne ein Geräusch von sich zu geben. Sie hatte Angst, ganz klar. Er hätte an ihrer Stelle auch Angst. Es machte ihn traurig, dass es so hatte kommen müssen. Er hockte sich vor sie hin und sah sie an. »Warum mussten Sie nur hierherkommen?«, fragte er. »Warum haben Sie keine Ruhe gegeben? Hat Ihnen die Todesanzeige nicht gereicht?«
    Sie starrte ihn an.
    Er schüttelte den Kopf. »Was soll ich nur mit Ihnen machen? Ich kann Sie doch nicht gehen lassen.« Er hob hilflos die Arme, fuhr sich durch die Haare und sah sie wieder an. »Das verstehen Sie doch?«
    Sie schwieg noch immer, machte keine Anstalten, ihm zu antworten, kein Zeichen, dass sie ihn verstanden hatte. Dieses Schweigen machte ihn wütend. Verhöhnte sie ihn? Jetzt noch, in ihrer Situation? Er gab ihr eine Ohrfeige, nicht allzu fest, aber doch fest genug, um ihre Haare zur Seite fliegen zu lassen. Es gab einen merkwürdig klingenden Ton, als sie mit dem Kopf gegen das Heizungsrohr schlug.
    »Können Sie nicht antworten?«, herrschte er sie an und spürte, wie sein Zorn heftiger wurde. »Sie verstehen doch, dass ich Sie nicht gehen lassen kann, oder? SIE VERSTEHEN DOCH?«
    Jetzt nickte sie, und er sah, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. Kein Hohn war mehr darin, kein Spott, keine Überheblichkeit.

    Na bitte. Geht doch.
    Er löste den Knoten an der Heizung. Er hatte eine alte Hundeleine benutzt, um sie an dem Rohr festzubinden. Ein Kunde hatte sie irgendwann liegen gelassen und nie wieder abgeholt. Gut, dass er sie aufbewahrt hatte. Man konnte sich gar nicht vorstellen, wozu manche Dinge am Ende doch noch nütze waren. Den Kabelbinder an ihren Beinen durchschnitt er mit einer Schere, dann half er ihr beim Aufstehen.
     
    Es schneite jetzt nicht mehr. Der Himmel war stellenweise sogar klar, und man konnte zwischen den Wolkenfetzen die Sterne sehen. Er fuhr ganz vorsichtig. Einige wenige Autos kamen ihm entgegen. Frühschichtler. Er arbeitete samstags nicht. Es hatte sich nicht gelohnt. Seit Jahren hatte er seine Öffnungszeiten, Montag bis Freitag, 9 - 12, 14 - 18 Uhr. Und samstags kam die Putzfrau. Sie würde nichts bemerken. Er hatte alles noch überprüft, bevor sie gegangen waren. Kein Blut, keine Spuren, nichts. Doch jetzt kam der schwierigste Teil. Auf seiner Stirn bildeten sich trotz der Kälte im Wagen Schweißtropfen. Was für ein Mist, das Ganze. Warum war diese Frau nur gekommen? Seine Hände waren ebenfalls schweißnass. Kalt und schweißnass. Er rieb abwechselnd die eine und die andere Hand an seiner Hose trocken und versuchte, den Ekel zu unterdrücken, der ihn in Wellen überkam. Wäre noch schöner, wenn ihm jetzt auch noch übel würde und er sich übergeben müsste.
    Er versuchte, seine Gedanken von den verschwitzten Händen abzulenken, doch es gelang ihm nicht wirklich. Dann schoben sich höchstens die Bilder von der Frau dazwischen. Wie er sie in den Kofferraum hatte stoßen müssen, weil sie sich geweigert hatte. Sie hatte sich tatsächlich geweigert! Als ob sie eine Wahl gehabt hätte. Er runzelte die Stirn, als er
daran dachte. Er

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