Seelengift
hätte sie töten müssen. Es richtig machen. Dann wäre es jetzt vorbei. Aber er hatte noch nie etwas wirklich richtig gemacht. Nichts zu Ende gebracht. Nicht die Schule, nicht die Ausbildung, die er sich gewünscht hatte. Er hatte das Gleiche werden wollen wie sein Vater. Der war Handelsvertreter gewesen. Ein schönes Wort, das hatte sogar seine Mutter gefunden. Sie hatte es immer ganz deutlich ausgesprochen, eine Silbe nach der anderen, in einem Ton, den sie für die guten, schönen Dinge reserviert hatte: Für Per-ser-teppich zum Beispiel oder Nerz-man-tel , Gei-ge , Kreuz-fahrt …
Rudolf Gerlach, Handelsvertreter für Spielwaren. Sein Vater. Er war immer auf Reisen gewesen, auch so ein Wort, das man sorgfältig aussprechen musste, damit Klang und Bedeutung übereinstimmten. Wahrscheinlich hatte er den Schlamassel verdient, in dem er jetzt steckte.
Der Parkplatz vor seinem Haus war noch frei. Er parkte sorgfältig, dann schaltete er die Zündung aus und blieb einen Augenblick sitzen, um sich zu sammeln. Es war nur eine Übergangslösung. Bis ihm etwas Besseres einfiel. Er konnte nicht so schnell denken. Warum musste sie auch einfach so vor ihm stehen wie ein Geist? Einfach so. IN SEINEM LADEN! Ihm würde schon noch etwas einfallen. Aber im Laden hätte er sie ja nicht liegen lassen können. Wegen der Putzfrau. Und laufen lassen konnte er sie auch nicht. Wenn nur alles gut ging. Er sah auf die Uhr: Viertel nach vier. Gerade noch richtig. Die meisten Leute schliefen noch.
Ein dumpfes Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken. Es war sie. Sie schlug wahrscheinlich mit den Beinen gegen den Kofferraumdeckel. Warum gaben sie nur immer keine Ruhe? Hatte sie es immer noch nicht kapiert? Der Schweiß brach ihm jetzt aus allen Poren. Hastig stieg er aus und rannte nach hinten, um den Kofferraumdeckel zu öffnen. Er zog sie
aus dem Auto, packte sie am Hals, drückte ein bisschen zu. »Ruhe!« Er flüsterte, aber in seinen Ohren klang es so laut, als ob er geschrien hätte. Sie musste husten, was mit dem zugeklebten Mund nicht gut funktionierte, und ihre Augen weiteten sich. Er konnte Panik darin sehen. Als er ihren Hals losließ, schwankte sie ein wenig hin und her. Er war zufrieden. Das hatte gut geklungen. Richtig autoritär.
Der Rest war sehr viel weniger schwer, als er gedacht hatte. Kein Auto fuhr die Straße entlang, während er mit ihr zur Haustür ging und aufsperrte. Kein Mensch im Treppenhaus, alles in tiefer Stille. Er hielt sie die ganze Zeit fest gepackt, schob sie grob die Treppe hinauf. Sie sollte nicht auf den Gedanken kommen, fliehen zu wollen. Aber sie machte keine Anstalten. Das Gehen schien ihr schwer zu fallen, sie stolperte mehrmals über ihre eigenen Füße, atmete heftig durch die Nase, der verklebte Mund, die gefesselten Arme behinderten sie natürlich. Ihre eigene Schuld. Endlich waren sie da. Er schob sie in die Wohnung, verschloss die Tür von innen und steckte den Schlüssel in seine Hosentasche.
Er hatte lange überlegt, wohin er sie bringen sollte, was sicher genug war. Bis ihm sein altes Kinderzimmer eingefallen war. Natürlich. Es war perfekt für diesen Zweck. Er ging mit ihr durch die Wohnung, ohne Licht zu machen. Der Zugang zu dem kleinen Zimmer war in der Küche. Es war eigentlich als Abstellkammer gedacht gewesen und hatte nur ein kleines Fenster auf den Küchenbalkon hinaus. Das hatte er gestern Abend noch von außen vernagelt. Dort konnte sie eine Weile bleiben. Bis er wieder einen klaren Kopf hatte. Dann würde er weitersehen. Er gab ihr einen Stoß, und sie stolperte hinein, fand nur mühsam das Gleichgewicht mit den auf dem Rücken gefesselten Händen. Tollpatschig, dachte er. Wie ein Kartoffelsack. Er gab ihr noch einen Stoß, und sie fiel auf das Bett.
Sein altes Kinderbett. Es war merkwürdig, dort eine Fremde sitzen zu sehen.
Noch nie war jemand anderer hier gewesen außer ihm und seinen Eltern. Freunde durfte er nicht einladen. Selten genug hatte seine Mutter ihm erlaubt, irgendwo hinzugehen, oft hatte sie die Erlaubnis auch kurz davor widerrufen, wenn er böse gewesen war, zum Beispiel, wenn er seine Mütze in der Schule vergessen oder sein Pausenbrot zu Hause auf dem Küchentisch liegen gelassen hatte.
Er nahm das Glas, das er schon vorbereitet hatte, vom Schreibtisch. Vier Schlaftabletten waren darin. Das würde erst einmal reichen. Dann würde er weitersehen. Er riss das Paketband ab und hielt ihr das Glas hin. Es bedurfte einiger Überredungskunst, bis sie trank,
Weitere Kostenlose Bücher