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Seelengift

Titel: Seelengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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auf all diesen Veranstaltungen? Ein Haufen fremder Leute stand herum, man drehte ein Sektglas zwischen den Fingern und sehnte sich nach einem Bier, und im Kino saß immer einer vor einem, der einen Kopf größer war und der mit der Chipstüte knisterte. Daran konnte sie doch nicht ernsthaft Gefallen finden? Das hatte er geglaubt. Und er hatte sich darin bestätigt gefühlt, weil es immer nur bei diesen Frühstücksvorschlägen geblieben war. Nie hatte seine Frau ernsthafte Anstalten gemacht,
ihn zu solchen Unternehmungen aufzufordern, nie hatte sie tatsächlich Karten gekauft, ja, sie war noch nicht einmal zu einem anderen Zeitpunkt des Tages wieder auf ihre Pläne zu sprechen gekommen. Am Abend zum Beispiel, wenn er zu Hause war und sie beide entspannt vorm Fernseher saßen. Da war sie nach einer Viertelstunde Tatort eingeschlafen. Wie kann man daran denken, zu einem Konzert zu gehen oder in die Kinospätvorstellung, wenn man schon nach einer Viertelstunde vor dem Fernseher schläft? Nur immer beim Frühstück, da waren ihr solche Ideen gekommen. Wo er doch seine Zeitung lesen wollte.
    Einmal war er vom Büro aus zum Kino am Goetheplatz gefahren und hatte Karten kaufen wollen für einen Film, von dem sie am Morgen gesprochen hatte. Doch als er da war, hatte er sich nicht mehr an den Titel erinnern können. Wie ein Depp war er vor der Kasse gestanden und hatte keine Ahnung gehabt, für welchen Film er Karten kaufen sollte. Er hatte sich umgedreht und war gegangen. Aber da war es wahrscheinlich eh schon zu spät gewesen. Kurz danach war sie ausgezogen. Sicher hatte sich der Adi die Filme merken können, die sie gerne sehen wollte. Wahrscheinlich wusste er auch den Spielplan vom Prinzregenten- und Gärtnerplatztheater auswendig und schlenderte mit Begeisterung mit ihr über den Bioräucherstäbchen- und Traumfänger-Gruschtlmarkt auf dem Tollwood-Festival, für das sich Gruber schon vor zwanzig Jahren zu alt gefühlt hatte.
     
    Armin stand noch immer draußen auf dem Balkon. Gruber öffnete die Tür: »Jetzt komm halt rein. Erfrierst doch in dieser Saukältn, nur mit deinem Hemd an.«
    Armin hob den Kopf und lächelte freudlos: »Jetzt redest schon wie die Mama.« Aber er kam zurück in die Küche.

    Sie setzten sich wieder, Gruber auf die Bank, mit dem Rücken zur Wand, und Armin gegenüber. Dort, wo vor über zwanzig Jahren sein Kinderstuhl gestanden hatte. Immer wenn er in der elterlichen Wohnung war, saß er dort. Immer nur dort. Der Platz an der Stirnseite des Tisches mit Blick aus dem Fenster blieb leer.
    »Magst noch einen frischen Kaffee?«, fragte Gruber seinen Sohn und hob die Thermoskanne, schüttelte sie ein wenig und stellte sie wieder ab. »Ich glaub’, ich koch’ uns noch einen, oder?« Erwollte aufstehen, doch Armin hielt ihn am Arm fest.
    »Jetzt bleib halt sitzen, Papa. Ich kann mir doch selber einen Kaffee machen, wenn ich noch einen will. Bin doch kein Gast hier.«
    Gruber setzte sich wieder. »Freilich nicht. Bist doch da daheim.«
    Er wandte den Blick ab zum Fenster hinaus. Beide wussten, dass es eine Lüge war. Armin hatte sich schon vor Jahren von dieser Wohnung entfernt, von der Stadt, von seinem Vater. Aber vielleicht stimmte das gar nicht. Vielleicht hatte sich Gruber von ihm entfernt? Aber wann war das gewesen? Wann hatte es angefangen? Irgendwann während Armins Pubertät? Vor ein paar Jahren, als Gruber vom Raub in die Mordkommission gewechselt war? Oder schon früher? Viel früher? Er stand auf und ging zum Spülbecken. Ließ Wasser in die Glaskanne laufen, steckte einen neuen Papierfilter in die Kaffeemaschine, löffelte Kaffeepulver hinein. Er fand keinen Weg zu ihm zurück. Er fand überhaupt keinen Weg mehr. Wusste nichts zu sagen und nichts zu fühlen. Er goss das Wasser in die Maschine und schaltete sie ein. Wischte mit dem alten Handtuch die Spüle trocken, blieb davor stehen und starrte auf den blinden Edelstahl, der nicht mehr poliert worden war seit … seit ….

    Er brach nicht zusammen. Zumindest nicht äußerlich. Seine Knie knickten nicht ein, ihm wurde nicht schwarz vor Augen. Dabei hätte er es sich so gewünscht. Zusammenbrechen. Hier, auf der Stelle. In alle Einzelteile zerfallen. Zerscheppern auf dem Boden wie eine alte Porzellantasse. Warum ging das nicht? Warum konnte er nicht verzweifeln? Weil er nicht wusste, wie das ging: verzweifeln. Es kam nichts heraus, es brach nichts zusammen. Alles blieb an seinem Platz, und die Kaffeemaschine spotzte und keuchte, und die

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