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Seelengift

Titel: Seelengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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gewohnt hatte, war es schlimmer gewesen. Sie hatte alle anderen gegen ihn aufgehetzt, keine Ruhe gegeben. Zunächst hatte er sich davon nicht stören lassen. Es war nichts Unrechtes, was er tat. Erst als sie ihm damit gedroht hatte, dafür zu sorgen, dass er auf die Straße gesetzt würde, hatte er beschlossen, etwas zu unternehmen. Niemand kündigte ihm die Wohnung, in der er lebte, seit er denken konnte. Niemand. Und schon gar nicht die Schnepfe aus der Bank. Es hatte gar nicht viel Mühe gekostet. Ein paar Mal hatte er ihre Post aus dem Briefkasten gefischt, sie geöffnet und die Briefe (es waren glücklicherweise auch einige sehr privater Natur sowie zwei Mahnschreiben wegen nicht bezahlter Rechnungen dabei gewesen) im Treppenhaus verteilt, sodass jeder sie sehen konnte. Dann hatte er über ein paar Wochen jedes Mal ihren sorgfältig getrennten Müll durcheinandergebracht und leere Schnapsflaschen dazugestellt oder zusammen mit dem Müll vor ihrer
Wohnungstür abgelegt. Dies und noch ein paar andere Kleinigkeiten wie nächtliche Telefonanrufe und ein paar anonyme Schreiben hatten dazu geführt, dass irgendwann der Umzugswagen vor der Tür gestanden hatte, und dann war sie weg gewesen. Jetzt wohnte dort oben eine Familie mit zwei kleinen Kindern. Die waren froh, wenn sich niemand über sie beschwerte, und ließen ihn in Ruhe. Er mochte Kinder genauso, wie er Hunde mochte, und es störte ihn nicht, wenn sie oben Krach machten. Blieb nur noch das alte Ehepaar Fischer aus dem Erdgeschoss, aber die waren auch sehr viel ruhiger geworden, seit die Schnepfe ausgezogen war. Sie hatten keinen Rückhalt mehr ohne sie, und so war auch das Klopfen von unten in letzter Zeit fast ausgeblieben. Er tat nichts Unrechtes. Er spielte nur Akkordeon. Tat niemandem weh. Und doch war es genau diese Geschichte mit der Schnepfe aus der Bank gewesen, die ihn am Sonntag auf die richtige Spur gebracht hatte.
    Während eines langsamen Musette-Walzers, bei dem er sich nicht sonderlich konzentrieren musste, waren seine Gedanken abgeschweift, und da war ihm plötzlich die Schnepfe wieder eingefallen und der Brief, den sie ihm hatte schreiben lassen und der ihn dazu bewogen hatte, etwas gegen sie zu unternehmen: Es war ein Anwaltsbrief gewesen. Er hatte mitten im Spiel innegehalten, und die fröhliche, sanfte Melodie war so abrupt abgestorben, als hätte er sie getötet. Stattdessen standen ihm die dicken schwarzen Lettern der Zeitung von letzter Woche wieder vor Augen, die verkündet hatten, dass Gruber aus der Untersuchungshaft entlassen worden war. Damit war sein Spiel für diesen Sonntag beendet gewesen. Er hatte das Akkordeon in den schwarzen Koffer verstaut und war in die Abstellkammer gegangen, wo er das Altpapier aufbewahrte. Mit spitzen Fingern hatte er die Zeitung
herausgezogen. Er hätte den Artikel natürlich schon am Freitag ausschneiden und gesondert aufbewahren müssen, wie er es sonst auch tat, aber er war so schockiert und angewidert von der Nachricht gewesen, dass er sich nicht hatte überwinden können, die Zeitung noch einmal durchzublättern. Auch hatten seine Hände geblutet, und er hätte sie nach dem Ausschneiden noch einmal schrubben müssen, was sicher nicht sehr angenehm gewesen wäre. Doch am Sonntag hatte er die Nachricht noch einmal lesen können - und tatsächlich: Dort hatte etwas von einer Anwältin gestanden, die Gruber vertrat. Bedächtig war er aufgestanden und hatte sich Schere, Kleber, einen Notizblock und einen Stift geholt. Dann hatte er den Artikel ausgeschnitten und in seinen Fallordner geklebt. Danach hatte er sich den Namen der Anwältin notiert, und vor seinem Auge war sofort die rothaarige Frau mit dem großen Hund erschienen, die er ein paar Tage zuvor getroffen hatte. Clara Niklas. Sie musste es sein. Er war sich hundertprozentig sicher.
    Das war gestern gewesen, und heute stand er in seiner Mittagspause vor der Kanzlei, die er im Telefonbuch ausfindig gemacht hatte. Es war enttäuschend, wie klein und unscheinbar sie war. Sie sah gar nicht wie eine Rechtsanwaltskanzlei aus, sondern eher wie ein Laden. Er hatte sich angesichts des Unheils, das die Anwältin verkörperte, etwas Beeindruckenderes vorgestellt. Wenigstens ein goldglänzendes Schild und einen Empfangsraum mit Marmorboden, wie man es aus dem Fernsehen kannte. Aber soweit man durch das alberne Schaufenster sehen konnte, gab es weder Marmor noch einen Empfangsraum. Nur eine Sekretärin, blond und ein bisschen aufgetakelt, und einen Mann im

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