Seelengift
käme, nur weil wir nicht mehr miteinander… also, weil wir …«, er verstummte hilflos.
»Weil Sie beide diesen dummen Fehler eingesehen haben«, half Clara ihm liebenswürdig auf die Sprünge.
»Ja, genau«, stimmte Wimbacher erleichtert zu, vollkommen unempfänglich für die Ironie in Claras Worten. »Sie hat sich für den Rudi interessiert, hat ihn nach der Schule gefragt, nach seinen Freunden, was für Musik er mag und so was. Und immer hat sie ihm kleine Geschenke mitgebracht.« Er sah Clara plötzlich erschrocken an. »Er hat morgen Geburtstag. Wird zwölf. Wir wollten deshalb am kommenden Sonntag noch ein bisschen mit ihm feiern. Mein Gott! Er weiß es ja noch gar nicht!«
»Hat Irmgard Ihnen bei diesen Treffen auch etwas über ihr derzeitiges Leben erzählt?«, wollte Clara wissen. »Hat sie vielleicht jemanden kennengelernt?«
Wimbacher schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Jedenfalls hat sie nichts darüber gesagt. Und außerdem sah es doch so aus«, er schielte vorsichtig zu Gruber hinüber, »als ob Walter und sie sich wieder näher kommen würden.« Jetzt sah er ihn direkt an. »Stimmt doch, oder?«
Gruber gab keine Antwort.
»Hat sie Ihnen das erzählt?«, hakte Clara nach. »Dass sie sich mit ihrem Mann aussöhnen wollte?«
Wimbacher nickte. »Ja, freilich. Das war in letzter Zeit immer wieder das Thema.« Er seufzte. »Ich fand es auch gut so. Wie gesagt, das mit uns beiden … war ein Fehler.«
»Und wussten Sie auch, dass Irmgard Gruber sich am vergangenen Donnerstag mit ihrem Mann getroffen hat?«
»Nein.«
»Wo waren Sie denn in der Nacht vom Donnerstag auf Freitag?«
»Nicht in München«, antwortete er, und als er an Claras abwartendem Blick sah, dass ihr das nicht genügte, fügte er noch hinzu: »Ich war von Donnerstag bis Sonntag beim Skifahren. In Österreich.«
»Allein?«
Wimbachers Gesicht überzog sich jetzt mit einer tiefen Röte. »Nein«, murmelte er und senkte den Kopf. »Ich habe jemanden kennengelernt … Wir … Seit einigen Wochen …«
»Verstehe.« Clara stand auf. »Das war eigentlich alles. Vielen Dank für Ihre Offenheit.« Sie reichte ihm die Hand.
Wimbachers Händedruck war feucht und matt, und auf seiner Stirn glänzten Schweißperlen. Er schien weniger nervös als vielmehr zu Tode erschöpft. Stumm folgte er ihnen bis zur Tür, dann gab er sich einen letzten Ruck und sah Gruber an. »Walter«, begann er zögernd, »es … es tut mir so leid.«
Claras Blick wanderte ebenfalls zu Gruber, der reglos neben ihr in der Tür stand. Er war einen halben Kopf kleiner und sehr viel schmaler als Wimbacher. Im Kontrast zu dem schwitzenden, rotgesichtigen Mann wirkte er wie ein dunkler Fleck, zäh und knotig und noch immer wie versteinert. Clara schien es eine Ewigkeit, in der sich die beiden Männer
schweigend gegenüberstanden, dann drehte sich Gruber ohne ein Wort um und ging.
Clara musste sich beeilen, um ihm zu folgen. Erst an der Straßenecke holte sie ihn ein.
Er blieb stehen. »Spucken Sie’s schon aus«, schnauzte er sie unvermittelt an, noch ehe sie einen Ton gesagt hatte.
Clara zündete sich erst eine Zigarette an, bevor sie antwortete, und stellte dabei verwundert fest, dass es erst die zweite an diesem Tag war. Dabei war es schon Mittag. »Was meinen Sie?«, fragte sie und blies den Rauch in die kalte Luft.
»Ich hätte ihm die Hand schütteln sollen oder so was, nicht wahr? Tränenreiche Versöhnung im Angesichts des Todes.« Er verzog verächtlich den Mund.
Clara betrachtete die geschäftige Straße, in der sie wie zwei Fremdkörper mitten auf dem Gehsteig standen und den Passanten den Weg versperrten. Der Himmel war blau und leuchtete, aber die Luft war trotz des strahlenden Sonnenscheins kaum wärmer als am Morgen. Ein eisiger Wind pfiff um die Straßenecke. Sie sagte: »Wenn Sie es gekonnt hätten, hätten Sie es sicher gemacht.«
Gruber sah sie einen Augenblick verdutzt an und meinte dann nachdenklich: »Ja. Da haben Sie wohl recht.«
Die Rückfahrt verlief wesentlich disziplinierter als die Hinfahrt, keine Beleidigungen, keine obszönen Gesten, keine gewagten Überholmanöver. Gruber war vollkommen in Gedanken versunken und blieb während der gesamten Fahrt stumm. Clara störte sein Schweigen nicht. Sie dachte über Adolf Wimbacher nach und was sie von ihrem Gespräch zu halten hatte. War etwas Neues dabei herausgekommen? Hatte es sie weitergebracht? Sie war sich nicht ganz sicher, doch ihr Gefühl sagte ihr, dass sie Wimbacher
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