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Seelengift

Titel: Seelengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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dass er nicht mehr länger das passive Opfer seines Spiels war, hatte dieser schärfere Geschütze aufgefahren: Diese Frau, sie war klug, ohne Zweifel, das hatte er gleich bemerkt, und sie war mit Sicherheit erbarmungslos. Wie eine Katze, die mit der Maus zuerst eine Weile spielt und sie dann mit einem einzigen wohlgezielten Tatzenhieb erledigt. Er zuckte unwillkürlich zusammen, als er dieses Bild vor Augen hatte, und beeilte sich, im Untergrund zu verschwinden.
    Die U-Bahn war wie immer um diese Zeit überfüllt, und er musste unglaublich gut aufpassen, um niemanden zu berühren und von niemandem berührt zu werden. Aber es hatte auch sein Gutes, wenn viele Menschen in seine Richtung fuhren: Es würde sicher jemanden geben, der wie er an der Münchner Freiheit ausstieg, und so konnte er vermeiden, den Türgriff zu berühren. Er musste nur warten, bis ein Fahrgast die Tür öffnete, und dann hinter demjenigen hinausschlüpfen. Es gab natürlich auch die Möglichkeit, dass jemand einstieg, dann gäbe es auch kein Problem mit dem Griff. Dann jedoch musste er hoffen, dass die Leute wohlerzogen waren und warteten, bis er ausgestiegen war, und sich nicht zu dicht an ihm vorbeidrängelten.
     
    Er kam vollkommen pünktlich zum Ende der Mittagspause an seinem Laden an. Erleichtert schloss er die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen. Nicht auszudenken, wenn er zu spät gekommen wäre. Das war noch nie vorgekommen, seit er den Laden besaß. Sicher wäre es jemandem aufgefallen, einem Kunden oder einem Passanten, dem Inhaber der kleinen Wäscherei zwei Häuser weiter, der immer vor der Tür stand und
rauchte. Oder den Angestellten des Friseurs direkt neben seinem Laden. Sie hätten sich gewundert, so, wie er sich wundern würde, wenn die Wäscherei morgens noch geschlossen wäre, wenn er kam. Sie hätten sich gefragt, was das zu bedeuten hätte, und irgendwann, irgendwann hätte jemand eins und eins zusammengezählt …
    Es waren immer die Kleinigkeiten, die einen zu Fall brachten. Das wusste man doch. Er spähte aus dem Fenster. Alles war normal. Niemand Verdächtiges zu sehen. Halbwegs beruhigt ging er nach hinten in die Teeküche, um sich die Hände zu waschen.
    Die Erkenntnis traf ihn, während er seine Hände abtrocknete, und sie traf ihn wie ein Blitz. Er keuchte und ließ das Handtuch fallen. Das war schlecht, denn er hatte kein frisches mehr im Laden. Doch im Augenblick dachte er gar nicht daran. Schwer atmend setzte er sich auf den wackligen Stuhl und starrte ins Leere. Das Bild von der Mäuse fangenden Katze war ihm gerade wieder in den Sinn gekommen und die Frage von vorhin, warum Gruber seiner Anwältin nicht die Wahrheit über den Morgenrock gesagt hatte. Er schüttelte heftig den Kopf. Das war wieder einmal dumm von ihm gewesen: Natürlich hatte er es ihr gesagt. Natürlich wusste sie von dem Zusammenhang zwischen Irmgards Tod und der anderen Frau und von der Botschaft, die für Gruber darin lag. Sie hatte sich absichtlich dumm gestellt in dem Café. ABSICHTLICH! Das bedeutete, dass sie gewusst hatte, wer er war. Es war eine Finte gewesen, um ihn aus der Reserve zu locken. Um ihn zu verunsichern. Er krümmte sich bei dem Gedanken daran, wie er ihr auf den Leim gegangen war, zusammen. Warum hatte er es nur nicht gleich gesehen? Der Blick, ihr Blick! Sie hatte ihn längst erkannt. Wahrscheinlich hatte Gruber sie sogar auf ihn aufmerksam gemacht, als er ihr aus dem Auto noch etwas
zugerufen hatte. Ja, so musste es gewesen sein: Er hatte ihn dort stehen sehen und sie vorgewarnt. Und dann hatte sie sich diese Strategie zurechtgelegt. Hatte darauf gebaut, dass er sie verfolgen würde, was er, der gottverdammte Idiot, auch getan hatte. Und dann, als ihre Finte Erfolg gehabt und er diesen Hustenanfall bekommen hatte, war dieser scheinheilige, boshafte Satz gekommen. Er verzog das Gesicht, ahmte ihren widerlich süßlichen Tonfall nach: »Kann ich Ihnen helfen? Brauchen Sie ein Glas Wasser?« Ihm kamen die Tränen, so sehr schämte er sich angesichts dieser Gemeinheit und seiner eigenen, ohnmächtigen Dummheit.
    Er nahm die Kippe, die er vor der Kanzlei aufgehoben hatte, bevor er ihnen ins Café nachgegangen war, aus der Hosentasche und warf sie unbesehen in den Papierkorb unter dem Waschbecken. So überlegen hatte er sich gefühlt, als er ihnen gefolgt war! So verdammt überlegen! Hatte wahrhaftig geglaubt, er wäre ihnen einen Schritt voraus. Er musste nichts mehr über sie herausfinden, konnte sie nicht mehr

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