Seelengift
dann angerufen und um ein letztes
Treffen gebeten, vielleicht hatte sie geweint, gefleht - jedenfalls war er gekommen, sie hatten sich auf dem Parkplatz getroffen, und Hartmann war noch einmal schwach geworden. Sie hatten sich geliebt, zum Abschied gewissermaßen, und dabei hatte Gerlinde Ostmann einen Herzanfall erlitten. In einem solchen Fall wäre Panik in bestimmter Weise sogar verständlich gewesen, überlegte Clara. Wenn Frau Hartmann davon erfahren hätte …
Herr Hartmann kam allein. Offenbar hatte seine Frau es vorgezogen, sich zurückzuziehen, nicht ohne ihm jedoch vorher noch gesagt zu haben, wer Clara war. Er schüttelte ihr die Hand und machte ein ernstes Gesicht. »Sie sind eine Freundin von Gerlinde gewesen? Es tut mir aufrichtig leid. Eine schlimme Geschichte war das.«
Clara nickte gnädig. »Ist schon gut.« Sie musterte ihn unauffällig, während er die Stiefel aus der Schachtel holte und die Verschnürungen öffnete. Herr Hartmann war ein Mann in den Fünfzigern, klein und schmächtig und absolut unauffällig. Ein schütterer, angegrauter Haarkranz umrahmte seine Glatze wie die Tonsur eines Mönchs, und auf seiner Oberlippe saß ein sorgfältig gestutzter Schnauzer. Das beigefarbene Hemd mit Krawatte und der grüngemusterte Pullunder waren vor etwa zwanzig Jahren modern gewesen.
»Bitte, wenn Sie versuchen wollen …« Er hielt ihr die geöffneten Stiefel hin.
Clara zog ihre eigenen Schuhe aus und schlüpfte in die schweren schwarzen Stiefel, deren Schaft ihr fast bis zur Hälfte der Wade reichte.
Herr Hartmann kniete vor ihr nieder und verschnürte die Bänder. »Ein wunderbarer Arbeitsschuh«, schwärmte er. »Genarbtes, doppelt vernähtes Rindsleder, das können Sie in einem Leben gar nicht kaputtkriegen.«
Clara musste ein wenig über sich selbst den Kopf schütteln. Was tat sie hier eigentlich? Feuerwehrschuhe anprobieren? War sie noch bei Trost?
Dann hatte er die Stiefel fertig geschnürt, und sie ging probeweise ein bisschen herum.
»Ihre Frau sagte mir, Sie seien mit Gerlinde besser befreundet gewesen?«, fragte sie im leichten Plauderton.
Herrn Hartmanns kleines Gesicht überzog sich mit einer leichten Röte. »So, hat sie das gesagt?« Er presste die Lippen aufeinander und packte schweigend das Seidenpapier zurück in die Schachtel.
»Na ja, Gerlinde hat das auch gesagt.« Clara zwinkerte ihm verschwörerisch zu. »Betriebsausflug, nicht wahr?«
Mit einem Knall stellte Herr Hartmann die Schachtel auf die Theke. »Passen die Schuhe?«
»O ja, sehr gut.« Mit leichtem Erstaunen bemerkte Clara, dass das tatsächlich stimmte. Sie waren richtig bequem. Und Platz für ein paar dicke Socken gab es auch noch. Sie betrachtete sich vor dem Spiegel. Die Schuhe sahen nicht mal schlecht aus. Sie wirkten ein wenig martialisch an ihren Füßen, aber das war eigentlich ganz cool, wie sie fand.
»Sie waren sicher sehr erschüttert, als das mit Gerlinde passiert ist, oder?« Clara ließ probeweise die Jeans über die Stiefel fallen. Auch nicht schlecht.
»Nehmen Sie die Schuhe jetzt oder nicht?« Herr Hartmann war bei weitem nicht so gesprächig wie seine Frau.
»Ja«, sagte Clara, überrascht über sich selbst. »Ja, die nehme ich.«
Als ihr Herr Hartmann den Preis nannte, schluckte sie, doch sie hatte ein Faible für ungewöhnliche Schuhe, und ihr Gefühl hatte längst entschieden. »Ich behalte sie am besten gleich an.«
Herr Hartmann packte ihre alten Schuhe in eine Tüte und reichte sie ihr. »Hören Sie«, begann er plötzlich leise, als sie beide schon an der Tür waren. »Ich weiß nicht, was Gerlinde Ihnen erzählt hat, aber da war nichts zwischen uns.«
Clara hob die Augenbrauen: »Ach nein?«, fragte sie gedehnt.
»Nun ja, nichts Richtiges. So ein bisschen … Rumgeknutsche auf der Feier und danach …« Er hüstelte und warf einen vorsichtigen Blick nach hinten in den Laden. Als er weitersprach, war seine Stimme noch leiser. »Aber mehr als dieses eine Mal war wirklich nicht. Ich schwöre! Wir waren beide betrunken, da passiert so was eben mal. Aber danach war nichts mehr.«
»Aber Gerlinde hat das anders gesehen«, wandte Clara ein.
»Ja doch, leider! Das war ja das Problem. Sie ist so aufdringlich geworden, sie hat getan, als wäre ich die Liebe ihres Lebens. Mein Gott!« Er raufte sich seine wenigen Haare. »Sie hat angerufen bei mir, mir ständig Blumen oder Pralinen auf den Schreibtisch gelegt … Ich wusste wirklich nicht mehr, was ich tun sollte.«
»Und da haben
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