Seelengift
ihren neuen Schuhen einen Stein vom Bürgersteig und ballte die Hände in ihren Manteltaschen zu Fäusten. »Ausgehungert« hatten beide sie genannt und dieses Ärgernis, diese Person, die so aufdringlich deutlich darauf bestanden hatte, in aller Öffentlichkeit in ihren Chef verliebt zu sein, entlassen.
Clara empfand Mitleid mit Gerlinde Ostmann, allerdings gepaart mit einer Portion Ärger über ihre Dummheit. Was hatte sie sich dabei gedacht? Hatte sie tatsächlich geglaubt, Hartmann würde sich wegen dieses für ihn eher peinlichen Fehltritts von seiner Frau scheiden lassen? Offensichtlich war sie dieser Meinung gewesen. Clara schüttelte den Kopf. Andererseits wusste sie nicht, was genau zwischen den beiden passiert war. Sie wusste nicht, was er ihr alles versprochen hatte. Und sie wusste nicht, ob es wirklich nur ein einziger Seitensprung gewesen war oder vielleicht doch viel mehr. Sie hatte heute nur die Version zu hören bekommen, die sich die beiden zurechtgelegt hatten, um ihre Ehe und ihr gemeinsames Geschäft nicht zu gefährden. Eheleute tischten einander in solchen Situationen immer Lügen auf. Und der andere Teil glaubte sie meist nur zu bereitwillig. Es musste ja weitergehen. Irgendwie.
Clara sah auf die Uhr: Es war halb elf, höchste Zeit, zurück in die Kanzlei zu gehen. Ihr grauste es davor, Willi und Linda zu begegnen. Sie würde sich entschuldigen müssen. Und sie würde reden müssen mit den beiden. Oder vielleicht zuerst einmal mit Willi.
Clara ging in die Hocke und kraulte Elise hinter den Ohren. »Was soll ich ihnen nur sagen?«, murmelte sie. »Ich kann doch nicht verlangen, dass Linda geht, nur weil sie mit Willi befreundet ist.« Sie mochte Linda sehr gerne und wusste außerdem, dass sie eine so tüchtige Sekretärin so schnell nicht wieder finden würden. Von Willis Reaktion auf diese Forderung einmal ganz abgesehen, daran durfte sie gar nicht denken. Andererseits konnte das auf Dauer nicht gut gehen.
Clara blähte die Backen auf und stieß mit einem Seufzer die Luft aus. »Warum mache ich mir um diese Geschichte
überhaupt Gedanken?«, brummelte sie zu Elise gewandt, die ihre großen, blutunterlaufenen Augen fest auf sie gerichtet hatte, ganz so, als teile sie ihre Sorgen. »Ich muss doch eigentlich gar nichts sagen. Sie müssten doch mit mir reden, oder? Was meinst du?«
Elise verstand, dass diese Frage an sie gerichtet war, und leckte ihr als Antwort einmal quer übers Gesicht.
»Bah!« Clara musste lachen, während sie sich mit dem Ärmel das Gesicht abwischte.
Neben ihr blieb eine junge Frau mit einem Kleinkind an der Hand stehen und sah sie missbilligend an: »Wie unhygienisch. Sie sollten Ihrem Hund so etwas nicht durchgehen lassen! Wenn er das lernt, leckt er das nächste Mal auch andere einfach so ab. Kleine Kinder womöglich!« Ihre Stimme bekam einen hysterischen Unterton. »Was das für Bakterien sind.« Sie zog ihr Kind, das gerade seine behandschuhten Patschhände in Richtung Elise ausgestreckt hatte, ruckartig zu sich.
Clara lächelte freundlich. »Danke für den Hinweis. Schön, dass Sie sich um die Hygiene der Gesellschaft sorgen. Sind Sie vom Gesundheitsamt?«
Die Frau sog entrüstet die Luft ein. »Sie haben wohl keine Kinder, was? Klar, bei Leuten wie Ihnen haben die Hunde ja immer Vorrang, dürfen die Spielplätze zuscheißen und …«
Clara nickte gelassen. »Ja, genau. Und ich an Ihrer Stelle würde mich ein bisschen entspannen. Von diesem verkniffenen Gesichtsausdruck bekommen Sie Falten um den Mund, das macht unheimlich alt.«
Die Frau sog empört die Luft ein: »Also, das ist ja…«, begann sie, doch Clara lächelte ihr freundlich zu.
»Ihnen auch noch einen schönen Tag!« Damit ließ sie die beiden stehen.
Sie hatte keine Lust, mit der U-Bahn zu fahren. Sie würde
zu Fuß zurück ins Büro gehen. Eine halbe Stunde hin oder her war jetzt auch schon egal. Außerdem konnte sie so auch gleich die neuen Schuhe auf ihre Wandertauglichkeit testen.
Während sie die belebte Straße entlangging, fiel ihr unversehens Gerlinde Ostmann wieder ein. Wo war sie hingegangen nach dem Abschied im Büro? Clara blieb stehen und dachte nach. War sie in die Innenstadt gefahren? Um was zu tun? Zu shoppen? Sicher nicht. Die Vorweihnachtszeit war kein guter Zeitpunkt, in die Kaufhäuser zu gehen, wenn man einsam und deprimiert war. Und deprimiert war sie sicherlich gewesen. Sie versuchte sich zu erinnern, wo Gerlinde Ostmann gewohnt hatte, doch es fiel ihr nicht mehr ein.
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