Seelengift
Sie setzte sich auf die eiskalte Metallbank einer Bushaltestelle, an der sie gerade vorbeikam, und zog die Akte aus ihrer Tasche. Die Adresse sagte ihr nichts. Wo zum Teufel sollte das sein? Sie blätterte weiter, sah sich eine Weile die Fotos der Leiche an und las dann noch einmal den Ermittlungsbericht. Dort wurde sie fündig: Gerlinde Ostmann hatte in Freimann gewohnt, im Münchner Norden, nur drei U-Bahn-Stationen vom Nordfriedhof und nur wenig weiter von ihrem Arbeitsplatz entfernt. Wahrscheinlich war sie, genau wie Clara heute, am Bonner Platz ausgestiegen. Jeden Morgen. Zwanzig Jahre lang. Und auch an dem Nachmittag, an dem sie zum letzten Mal bei der Firma Hartmann gewesen war. Clara klappte die Akte zu. »Und danach?«, flüsterte sie. »Wohin bist du danach gegangen?«
Sie sah sich um. Ganz sicher war Gerlinde Ostmann nicht direkt wieder nach Hause gefahren. Sie selbst hätte das an ihrer Stelle jedenfalls nicht gemacht. Sie hätte sich vor der Leere gefürchtet. Und auch die Sache mit dem Blumenstrauß, den man in ihrer Wohnung nicht gefunden hatte, sprach dafür, dass sie vor ihrem Tod nicht mehr zu Hause gewesen war.
Aber irgendetwas Bestimmtes unternommen hatte sie wohl auch nicht. Dazu fehlte ihr nach diesem Nachmittag sicher die Kraft und auch die Lust. Man trifft in einer solchen Situation keine Verabredungen, vor allem nicht, wenn man keine engen Freunde hat, so wie Gerlinde Ostmann.
»Ich wäre herumgelaufen«, murmelte Clara nachdenklich. »Hier herumgelaufen. Ich hätte mich in ein Café gesetzt und aus dem Fenster gestarrt, wäre wieder weitergelaufen, immer weiter, bis ich irgendwann zu Hause angekommen wäre, zu müde, um noch einen klaren Gedanken zu fassen.«
Clara spürte, wie die Erregung sie packte. Sie hatte das sichere Gefühl, auf etwas Wichtiges gestoßen zu sein. Schnell blätterte sie die Akte noch einmal durch und suchte sich von den Fotos aus der Rechtsmedizin eines aus, das nur Gerlindes Gesicht zeigte, und steckte es in ihre Manteltasche. Dann packte sie die Akte zurück in ihre Tasche und stand auf. Langsam ging sie weiter, versuchte, die Straße mit den Augen von Gerlinde Ostmann zu sehen, die dort jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit entlanggegangen war. Welche Richtung hatte sie an jenem Nachmittag eingeschlagen? Richtung Leopoldstraße? War gut möglich. Ja, sicher in diese Richtung!
Clara verbot sich, darüber nachzudenken, wie wahrscheinlich es war, auf diese Art und Weise die Spur einer Frau wiederzufinden, die vor mehr als einem Jahr gestorben war. Aber sie hatte nichts anderes. Es gab nichts, was sie hätte tun können, um Gerlindes letzten Nachmittag zu rekonstruieren. Sie lief weiter die Leopoldstraße entlang in beide Richtungen, schaute in die Schaufenster, trank einen Cappuccino in einem der Cafés, starrte aus dem Fenster. Vor dem Kinocenter an der Münchener Freiheit kam ihr eine Idee: Vielleicht war sie ins Kino gegangen? Kurzentschlossen ging sie zu der Ticketverkäuferin.
»Könnten Sie mir wohl sagen, was Sie vorletztes Jahr im Dezember hier im Programm hatten?«
Die junge Frau musterte sie einen Augenblick erstaunt, schob ihren Kaugummi von einer Seite des Mundes in die andere und nickte dann. »Klar kann ich, alles da drin.« Sie deutete auf ihren Bildschirm und begann zu tippen, ohne weitere Fragen zu stellen. »Also: Da sind angelaufen … Der Tag, an dem die Erde stillstand , Tintenherz , Australia , 1 ½ Ritter …«
» Australia ! War das nicht so ein Schmachtfilm mit Nicole Kidman und diesem gutaussehenden …« Clara überlegte.
»Hugh Jackman«, nickte die junge Frau und leckte sich die Lippen. »Eine echte Sahneschnitte.«
Clara lächelte. »Richtig.« Sie bedankte sich bei der hilfsbereiten jungen Frau und verließ das Kino.
Australia . Genau das Richtige für eine einsame Frau mit Liebeskummer und Weltschmerz. Sie blickte die Fassade des Kinogebäudes hoch. »Bist du ins Kino gegangen, Gerlinde? Hast dich so richtig in deinen Frust fallen lassen?«
Ja, es war möglich. Sogar recht gut möglich. Sie konnte es sich genau vorstellen, wie Gerlinde hier stehen geblieben war, nach oben auf die Anzeige geblickt und sich dann kurzentschlossen eine Karte gekauft hatte. Sie hatte ja Zeit. Viel zu viel davon. Niemand wartete auf sie, keine Arbeit, keine Familie. Und dann? Wie war es weitergegangen?
Clara überlegte. Das Ganze begann ihr Spaß zu machen. Sie kramte eine Zigarette aus der Tasche und zündete sie sich an. Hatte Gerlinde geraucht?
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