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Seelengift

Titel: Seelengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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dem Tisch direkt neben der Theke. Es war der größte Tisch im Lokal, und ein schmiedeeisernes Schild darauf verkündete, dass es sich um den Stammtisch handelte. Er deutete auf einen Stuhl. »Da hat sie gesessen. Direkt neben dem Papa Joke, der saß wie immer auf der Bank und hat ein Lied nach dem anderen gespielt. Wollt’ gar nicht mehr aufhören.«
    Claras Blick blieb an dem leeren Stuhl haften. Dort hatte Gerlinde Ostmann in den letzten Stunden vor ihrem Tod gesessen, zwischen fremden Männern, die Oscho, Waggi und
Papa Joke hießen. Clara überkam plötzlich eine tiefe Trauer, so, als ob sie die Frau tatsächlich gekannt hätte. Sie stand auf und setzte sich auf den Stuhl, ließ den Blick umherschweifen, versuchte, das Lokal mit Gerlinde Ostmanns Augen zu sehen, die Musik zu hören, die Menschen zu sehen, die herumsaßen, vielleicht mitsangen, tranken und ihren Spaß hatten. Und dann? War sie mit einem der Gäste mitgegangen? Auf der Suche nach … ja wonach? Nach Nähe? Nach Ablenkung? Mehr konnte es ja nicht gewesen sein. Ein trauriger, bitterer Versuch, einen Aufschub zu erzwingen. Den Moment hinauszuzögern, in dem sie nach Hause musste, wo niemand außer der Katze auf sie wartete. Eine leere Wohnung und eine leere Zukunft. Clara versetzte der Gedanke einen schmerzhaften Stich. Sie konnte diese Frau nur zu gut verstehen.
    Das Bierglas, das sie noch immer umklammert hielt, war warm geworden, und der Schaum längst zusammengefallen. Sie trank den Rest in einem Schluck und schob es dann beiseite. »Wissen Sie vielleicht, ob die Frau allein oder mit jemand zusammen gegangen ist?« Sie räusperte sich und wartete dann fast furchtsam auf die Antwort. Unversehens waren sie am entscheidenden Punkt angelangt.
    Zu ihrer Überraschung lachte der Wirt laut auf. »Ja freilich! Das war ja das Verrückte! Sie ist doch tatsächlich mit dem Papa Joke weg. Was glauben Sie, wie wir alle geschaut haben.«
    Clara starrte ihn an. Sollte es tatsächlich so einfach sein? Hatte sie den Mann gefunden, der für Gerlinde Ostmanns Tod zumindest moralisch mitverantwortlich war und - womöglich - Irmgard Gruber umgebracht hatte?
    »Papa Joke …«, wiederholte sie leise. »Und wie heißt der Mann mit richtigem Namen?«
    Der Wirt sah sie verdutzt an. »Keine Ahnung. Einer vom
Stammtisch ist auf den Spitznamen gekommen. Alle haben ihn so genannt. Es hat ihm nichts ausgemacht.«
    »Aber warum Papa Joke? Was soll das bedeuten?«
    Der Wirt schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Das war irgend so ein saublöder Einfall, wie Spitznamen halt so entstehen. Ich hab’ ja schon gesagt, das war ein komischer Typ.«
    »Inwiefern komisch? Ich meine, außer dass er immer das Gleiche gegessen hat?«, wollte Clara wissen.
    Der Wirt überlegte, dann zuckte er mit den Achseln. »Mei, wie soll ich sagen? Komisch halt. Er hat kaum was gesagt, niemanden angeschaut.«
    »Und wann ist er normalerweise gekommen? Jeden Tag oder nur an bestimmten Tagen? Wann haben Sie ihn denn zum letzten Mal gesehen?«
    Der Wirt sah sie erstaunt an: »Ja, gar nicht mehr! Hab’ ich das nicht gesagt? Schon seit einer Ewigkeit war der nicht mehr da.« Er dachte nach, dann wandte er sich wieder der Durchreiche zu: »Hilde, seit wann war jetzt der Papa Joke nimmer da?«
    Clara glaubte die Antwort zu kennen, obwohl sie sie nicht verstehen konnte, und der Wirt bestätigte ihre Ahnung: »Die Hilde glaubt, dass er tatsächlich seit diesem Geburtstag nicht mehr da war.« Er rieb sich über Kopf und Gesicht. »Sakra! Hat er sie umbracht, oder was?«
    Clara schüttelte den Kopf. »Nein. Sie ist an einem Herzinfarkt gestorben.«
    »Ach so? Ja aber …« Der Wirt sah sie verwirrt an. »Warum wollen S’ denn dann das alles wissen?«
    Clara gab keine Antwort. Stattdessen fragte sie: »Wie hat er denn ausgesehen?«
    »Wie er ausgesehen hat? Ganz normal eigentlich. Ziemlich groß, aber nicht so groß wie ich, braune Haare, glaube ich …«

    »Und wie alt war er?« Claras Enthusiasmus über die Entdeckung von Papa Joke war jetzt erheblich gedämpft.
    »Vielleicht so ungefähr fünfzig? Oder etwas jünger? Könnt’ auch schon älter gewesen sein.«
    Clara seufzte.
    »Fragen S’ halt mal die vom Stammtisch. Die haben ab und zu was mit ihm geredet. Wenn man das Reden nennen kann. Vielleicht können die Ihnen mehr sagen.«
    »Kennen die vielleicht auch seinen richtigen Namen?«, fragte Clara hoffnungsvoll.
    »Kann sein.« Er machte ein zweifelndes Gesicht.
    Clara stand auf und brachte das

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