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Seelengift

Titel: Seelengift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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Schreck zusammen. Dort oben stand jemand. Direkt über ihr am Rande der Böschung, und er sah genau zu ihr herunter. Clara duckte sich instinktiv. Der Gestalt nach war es ein Mann, aber sie konnte sein Gesicht nicht erkennen. Vielleicht hatte er sie gar nicht gesehen? Sie war wegen der Beerdigung ganz in Schwarz gekleidet, und hier unten herrschte ein diffuses Zwielicht, zumal jetzt die Sonne endgültig verschwunden
war. Aber was tat er dort? Warum stand er genau da? Sie begann zu zittern, und ihr Herz klopfte schmerzhaft irgendwo in der Nähe ihres Halses. Sie duckte sich noch tiefer, versuchte, sich unsichtbar zu machen, mit dem dunklen Waldboden zu verschmelzen. Ihre Hände, die sich in den gefrorenen Boden gekrallt hatten, leuchteten verräterisch hell. Eine ganze Weile starrte sie auf ihre weißen Hände und war wie gelähmt. Sie wagte nicht, den Kopf zu heben, aus Furcht, dem Mann womöglich ins Gesicht zu blicken. Ihre Ohren waren aufs Äußerste gespitzt. War da nicht ein Knacken gewesen? Das Geräusch von Schritten? Kam er zu ihr herunter? Sie machte sich sprungbreit, entschlossen zu fliehen, doch gleichzeitig war sie nicht in der Lage, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Erst als vom Friedhof Glockengeläut ertönte, hob sie vorsichtig, im Zeitlupentempo, den Kopf und sah nach oben. Die Gestalt war verschwunden. Sie richtete sich halb auf und sah sich um. Niemand war zu sehen. Doch die Angst, die sie gepackt hatte, wollte noch nicht weichen. Mit wackeligen Knien und dem ständigen Gefühl im Nacken, beobachtet zu werden, kletterte sie nach oben. Sie erreichte den Rand der Böschung gerade in dem Moment, als die gesammelte Trauergemeinde um die Ecke bog.
    »Ach du große Scheiße«, fluchte sie und wischte sich mit zitternden Händen die Blätter und dürren Äste von den Knien.
    Gruber hatte sie schon entdeckt und steuerte geradewegs auf sie zu. »Frau Niklas!« Er packte sie am Arm. »Sind Sie hingefallen? Sie schauen furchtbar aus.« Dann fiel sein Blick auf die Böschung, und er verstand.
    »Was zum Teufel …«, begann er, doch Clara unterbrach ihn, während seine Schwägerin mit ihrem Mann und Armin im Schlepptau wie ein Fregatte auf sie zugesegelt kam.

    »Haben Sie ihn gesehen?« Sie war noch ganz atemlos vor Schreck.
    »Wen?« Er runzelte die Stirn.
    »Den Mann, der gerade noch hier gestanden ist!« Sie senkte ihre Stimme zu einem Flüstern herab. »Ich glaube, das war er!«
    »Hier? Heute?« Gruber sah sie fassungslos an. »Der ganze Friedhof ist voll mit Polizisten! Keiner würde so blöd sein, sich da mitten hineinzubegeben. Außer vielleicht im Fernsehen.« Er schüttelte den Kopf.
    Clara biss sich auf die Lippen und kam sich unsagbar dämlich vor. Er hatte natürlich recht. So etwas taten Mörder nur in Krimis. »Es tut mir leid, war dumm von mir.«
    Jetzt hatte die Fregatte sie erreicht. »Was ist denn mit Ihnen passiert?«, fragte sie in vorwurfsvollem Ton.
    Clara hob in einer verlegenen Geste die Arme und lächelte entschuldigend. »Ich bin gestürzt. Das lange Stehen und die neuen Schuhe …« Sie hob ein Bein und zeigte der Fregatte einen ihrer neu erworbenen Feuerwehrstiefel, die einzigen schwarzen Stiefel, die sie besaß.
    Grubers Schwägerin musterte zuerst die Schuhe und dann den Rest von Clara abfällig. Dann wandte sie sich ohne ein weiteres Wort ab und steuerte auf einen silberfarbenen Mercedes mit Pfarrkirchener Kennzeichen zu. Ihr Mann folgte ihr auf dem Fuß.
    Gruber sah Clara ein wenig unschlüssig an. »Wir gehen jetzt zum Brunnenwirt, Sie sind natürlich herzlich eingeladen.«
    »O nein!« Clara wehrte erschrocken ab. »Danke, aber, nein danke, ich muss jetzt in die Kanzlei!«
    Gruber nickte. »Also dann …«
    Clara verabschiedete sich von Gruber und Armin, so schnell sie konnte, ohne unhöflich zu sein, und trollte sich. Dabei
bemerkte sie Kommissarin Sommer, die nur wenige Schritte entfernt von den Grubers stand und Clara aus schmalen Augen beobachtete. Als sich ihre Blicke trafen, wandte die blonde Kommissarin schnell den Kopf und tat so, als unterhielte sie sich mit einem Kollegen. Clara seufzte. Gruber wäre vieles erspart geblieben, wenn dieses Miststück sich nicht eingemischt hätte.
     
    Während Clara zur U-Bahn ging, schimpfte sie leise vor sich hin: »Du selten dämliches Huhn! Warum musstest du nur da hinunterklettern?« Sie vergrub ihr Gesicht in ihrem Mantelkragen, um sich vor dem scharfen Wind zu schützen, der wieder unvermittelt aufgekommen war. Die

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