Seelengift
geschüttelt. Längst hatte sich jedoch ihre Meinung dazu geändert. Zusammen zu essen und zu trinken war wichtig. Es bedeutete eine Art Rückkehr ins Leben nach den Schrecken einer Beerdigung, und es war kein Wunder, dass diese Veranstaltungen hin und wieder aus dem Ruder liefen. In Irland hatte sie Beerdigungen miterlebt, die in große wilde Partys gemündet waren. Manche mochten das gegenüber dem Verstorbenen für pietätlos halten, aber Clara, deren Sinn für religiöse Gefühle und Pietät im Allgemeinen nicht sehr ausgeprägt war, hielt es lieber mit den Lebenden: Sie mussten schließlich weiterleben, und alles, was ihnen dabei half, war gut.
Gruber und seine Familie würden heute wohl kaum in Feierlaune geraten, aber trotzdem kam es nicht in Frage, ihn jetzt zu stören. Sie unterbrach die Verbindung hastig. Stattdessen suchte sie im Telefonbuch die Versicherungsagentur Wimbacher. Er müsste eigentlich schon wieder von der Beerdigung zurück sein. Clara konnte sich nicht vorstellen, dass er von Gruber zum Leichenschmaus in den Brunnenwirt eingeladen worden war. Im Büro meldete sich nur der Anrufbeantworter, doch Clara fand auch seine Privatnummer im Telefonbuch und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass
er zu Hause war. Ihr Gebet wurde erhört, Wimbacher nahm nach dem zweiten Klingeln ab.
Clara atmete auf. »Hier ist Clara Niklas, die Anwältin von Walter Gruber«, begann sie aufgeregt.
»Ja?« Wimbachers Stimme klang misstrauisch.
»Ich wollte Sie nur etwas fragen«, sagte Clara schnell. »Wegen Ihrem Neffen, dem Rudi.«
»Ja?«, kam es gedehnt zurück.
»Sie sagten doch, Irmgard Gruber hat ihm immer Geschenke gemacht. Was waren das für Geschenke? War es vielleicht Zubehör für seine Modelleisenbahn?«
»Wieso wollen Sie das denn wissen?«, fragte Wimbacher zurück.
Clara unterdrückte einen Seufzer. »Es könnte sein, dass wir so etwas wie eine Spur haben«, meinte sie ausweichend.
»Aha. Und was hat der Rudi damit zu tun?«
»Nichts! Gar nichts!« Clara wurde ganz zappelig. »Ich muss nur etwas überprüfen, ich habe etwas gefunden.«
Wimbacher schwieg einen Augenblick, dann sagte er: »Hören Sie, ich komme gerade von Irmis Beerdigung und habe jetzt wirklich gar keinen Sinn für Ihre Detektivspiele. Überlassen Sie das doch der Polizei!«
»Bitte, Herr Wimbacher! Sie wollen doch auch, dass der Mörder gefunden wird!«, flehte Clara ihn an. »Es ist doch kein Problem, mir zu sagen, was …«
Wimbacher unterbrach sie. »Was ich will, ist, diese unselige Sache endlich zu vergessen. Der Rudi ist fix und fertig, das können Sie sich ja wohl vorstellen, oder? Wir wollen damit nichts mehr zu tun haben.« Er legte auf.
Clara starrte ungläubig den Hörer an. »Was für ein Arschloch«, brummte sie. »Als ob er das so einfach vergessen könnte.«
Dann musste es eben anders gehen. Sie kochte sich einen Kaffee, setzte sich an ihren Schreibtisch, rauchte und durchforstete das elektronische Telefonbuch auf dem Laptop. Es gab elf Fachgeschäfte für Modelleisenbahnen und Modellbau im Großraum München, davon sechs in der Innenstadt. Clara überflog die Liste mit fieberhafter Ungeduld. An einer Adresse blieb sie hängen: Modelleisenbahnen Bockelmann . Inhaber Josef Gerlach. Und dann die Adresse: direkt an der Münchener Freiheit, keine fünf Minuten entfernt von der Kneipe, in der sie gestern gewesen war, und höchstens zehn Minuten zu Fuß bis zu Irmgard Grubers Wohnung.
Clara ließ sich auf ihren Stuhl fallen und atmete tief ein. Hatte sie ihn? Hatte sie Papa Joke tatsächlich gefunden? Sie nickte langsam, und ihr Blick wanderte zurück zu dem Namen auf der Liste. Josef Gerlach. Josef ! Er musste es sein. Und die Modelleisenbahn war die Verbindung zu Irmgard Gruber. Sie war in seinem Laden gewesen, hatte dort Geschenke für Adolf Wimbachers Neffen gekauft. Clara konnte sich zwar noch immer nicht vorstellen, was zu dem Mord geführt hatte, aber das hier war eine echte Spur. Die Verbindung zwischen Papa Joke alias Josef und Irmgard Gruber.
Sie stand auf. Jetzt war Schluss. Mehr konnte sie nicht mehr tun. Der Rest war Sache der Polizei. Sie packte die Lokomotive zusammen mit dem Geschenkpapier in ihre große Kanzleitasche. Nach kurzem Zögern nahm sie die beiden Todesanzeigen und das leere Kuvert ebenfalls mit. Dann wählte sie Grubers Handynummer. Beerdigung hin oder her, sie musste ihm wenigstens sagen, dass sie zu Kommissarin Sommer ging. Es meldete sich nur die Mailbox, und Clara bat dringend
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