Seelengift
letzten blauen Flecken am Himmel waren verschwunden, und die Wolken hingen tief und schneeschwer über der ganzen Stadt. Das Wetter schlug um. Clara konnte es spüren, hinter ihren Augen machte sich leichter Kopfschmerz bemerkbar, der stärker wurde, wenn sie in den Himmel blickte. Sie kniff die Augen zusammen. Kopfschmerzen! Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie blieb unschlüssig stehen, dann kehrte sie um. Vielleicht war es doch besser, noch ein wenig frische Luft zu schnappen und zu Fuß zu gehen. Sie war noch keine fünf Minuten unterwegs, da begann es zu schneien. Zuerst ganz leicht, vereinzelte Flocken hie und da, dann wurden es schnell mehr. Hinzu kam der heftige Wind, der durch ihren Mantel pfiff und ihre Augen tränen ließ. Kein Mensch war auf der Straße, und Clara bereute es schon, zu Fuß gegangen zu sein. An der Münchener Freiheit würde sie in die U-Bahn steigen, Kopfschmerzen hin oder her.
Während sie mit zusammengekniffenen Augen und hochgezogenen Schultern dahintrottete, kam ihr der Mann an der Böschung wieder in den Sinn. Je länger sie über ihn nachdachte,
desto weniger abwegig erschien ihr der Gedanke, dass es tatsächlich der Mörder gewesen sein könnte. Aus irgendeinem Grund, der ihr selbst noch nicht klar war, überraschte sie der Gedanke, dass er an der Beerdigung teilgenommen hatte, nicht, im Gegenteil, es schien ihr vollkommen logisch zu sein. »Es passt zu dir«, murmelte sie in ihren Mantel hinein. »Das ist genau das, was du brauchst, nicht wahr?« Sie hob den Kopf. »Du brauchst die Kontrolle! Es macht dich wahnsinnig, nicht zu wissen, was vorgeht.« Sie nickte langsam. Ja, das war es: Kontrolle, den Überblick behalten, die Dinge beobachten.
Clara blieb abrupt stehen. Um sie herum war es still, fast zu still für einen normalen Freitag in der Stadt. Der plötzliche Schnee dämpfte die Geräusche schon jetzt, obwohl noch gar nicht viel liegen geblieben war. Autos in der Ferne, irgendwo, gingen sie nichts an. Dabei lagen die Leopoldstraße und der Mittlere Ring in unmittelbarer Nähe. »Beobachten«, wiederholte Clara leise, beschwörend, voller Angst, der Gedanke, diese plötzliche, hauchdünne Verbindung zum Mörder könnte abreißen, bevor sie sich einen Reim darauf machen konnte. »Du hast sie beobachtet, du warst da, du hast gesehen, wie Gruber gekommen ist …«
Clara setzte sich wieder in Bewegung, beschleunigte ihren Schritt, bis sie fast lief. Erst als sie vor dem Haus stand, in dem Irmgard Gruber gewohnt hatte, blieb sie schwer atmend stehen. Die kalte Luft schmerzte in ihren Lungen, aber ihr war warm geworden, und die Kopfschmerzen waren verschwunden. Die beiden Fenster im ersten Stock, die zu Irmgards Wohnung gehört hatten, waren dunkel und leer. Jemand, Clara vermutete, Irmis Schwester, hatte bereits die Vorhänge abgenommen.
Doch das Haus selbst interessierte Clara dieses Mal nicht.
Sie sah sich um, suchte nach einem geeigneten Platz, von dem aus man die Fenster sehen konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Sie fand ihn direkt gegenüber. Auf der anderen Straßenseite stand ein altes Haus mit Backsteinfassade in einem zugewachsenen Garten. Hohe Buchen säumten den von zwei ebenfalls hohen Backsteinpfosten gesäumten Eingang. Ein Gartentor gab es nicht. Überhaupt sah das Haus nicht sehr gepflegt aus. Der schmale Kiesweg war von den Blättern des vergangenen Herbstes bedeckt, die niemand weggefegt hatte, und die Fassade war stellenweise so dicht von Efeu bewachsen, dass er bereits anfing, die Fenster zu überwuchern. Über der Eingangstür hingen die letzten Fetzen einer tibetanischen Gebetsfahne, und neben den Stufen lehnte ein rostiges Fahrrad, dem ein Reifen fehlte.
Clara ging in den Garten und stellte sich zwischen zwei besonders dicke Buchen. Der Platz war perfekt: Sie konnte die ganze Straße überblicken und hatte vor allem freie Sicht auf Irmgard Grubers Fenster. Clara bückte sich, um den Boden nach verräterischen Fußspuren abzusuchen, doch der Boden war seit Wochen gefroren, und selbst wenn sich hier jemand längere Zeit aufgehalten hätte, könnte man nichts sehen. Auch gab es kein Kaugummipapier und keine Zigarettenstummel, die darauf hätten schließen lassen, dass hier jemand gestanden und gewartet hatte.
Clara wollte sich gerade wieder aufrichten, als ihr Blick auf etwas Merkwürdiges fiel. Es lag etwa einen halben Meter entfernt, dicht am Gartenzaun, und war auf den ersten Blick nicht zu definieren. Clara griff danach. Es war ein Geschenk.
Weitere Kostenlose Bücher