SEELENGOLD - Die Chroniken der Akkadier (Gesamtausgabe)
konnte, gaben ihre Knie nach.
Sie hatte Bestien zur Welt gebracht!
Mein! , brüllte Naham in ihrem Inneren aus Sorge, was Ishtar nun tun würde.
„Bestien!“, stieß sie hervor und schüttelte den Kopf. „Warum nur?“
Ein gellender Schrei löste die Göttin aus ihrer Fassungslosigkeit. Sie schreckte hoch und rannte los. Ishtar wusste, woher er gekommen war. Sie lief die große Säulenhalle hinunter, bis sie das Gemach ihrer Kinder erreichte. Emiliana, die Zofe, stand in der anderen Ecke des Zimmers. Ihr Arm blutete.
„Ich wollte ihn bloß zudecken …“, stammelte die junge Nihr und schaute Ishtar mit aufgerissenen Augen an. Die Göttin schluckte ihre Aufregung hinunter und sammelte sich.
„Geh und versorge deine Wunde!“ Emiliana eilte hinaus.
Du bist ihre Mutter! Wenn sie jemand lehren kann, die Bestie zu kontrollieren, dann du!
Ishtar trat heran und betrachtete die Brut. Wahrhaft perfekt. Wenn auch nicht engelsgleich. Jolina schlief, Elias lächelte und Noah hatte goldenes Blut an seinem Mund. Mit den Nägeln fügte sie ihrem Unterarm eine Schnittwunde zu und stillte ihn.
Kapitel 1
London, Gegenwart
„Scheiße!“, hörte Selene Johnson sich flüstern und schüttelte den Kopf, um die Bilder aus ihrem Gedächtnis zu verdrängen. Sie lehnte sich von innen gegen ihre Wohnungstür, drückte sie ins Schloss und senkte den Blick nach unten, vorbei an ihrer schwarzen Bluse, dem schwarzen Rock und den schwarzen Pumps. Schon wieder ein Tag, an dem sie das Ende herbeisehnte. Doch heute gab es einen Grund, den sogar andere Menschen nachvollziehen konnten.
Selene ließ ihre Handtasche zu Boden gleiten, streifte die Schuhe ab und durchquerte den Flur. Das alte Holz gab unter ihren Füßen nach, als wenn es lebendig wäre. Wenigstens etwas. Sie selbst spürte vom Leben nichts mehr, fühlte sich, als hätte man ihr ein Messer in den Bauch gerammt. Ihr Innerstes war aufgestochen, zertreten und in die Ecke geworfen worden. Das erkannte sie auch beim flüchtigen Blick in den Spiegel, den sie sich hätte sparen sollen. Ihr langes Haar wirkte noch schwarzer als sonst, die Haut blasser und die Augenringe tiefer. Von den Mundwinkeln, die seit Ewigkeiten nur nach unten hingen, mal abgesehen. Siebenundzwanzig? Die Frau, die ihr seit Monaten im Spiegel begegnete, sah nicht mehr aus wie siebenundzwanzig, würde es wahrscheinlich nie wieder.
Mit einem verächtlichen Schnaufen betrat sie das Wohnzimmer, sank auf die Couch und verbarg ihr Gesicht in den Kissen. Ein Zufluchtsort, wie sie hoffte. Doch heute gelang es ihr nicht, den inneren Druck zu mindern. Höllische Schmerzen vibrierten durch ihren Kopf und der Rest ihres Körpers fühlte sich seit Stunden wie betäubt an. Seit Stunden.
Nicht schon wieder! Reiß dich zusammen. Doch die Erinnerung des Tages hakte sich in ihre Wirbelsäule und kroch hinauf.
Zwei Stunden. Sie stand volle zwei Stunden in der prallen Mittagssonne, die es zur Herbstzeit in London nicht geben sollte, und starrte über den Sarg hinweg. Niemals darauf!
Der Pfarrer hatte viel erzählt, hatte mitfühlende Worte an die Anwesenden gerichtet. Auch an Selene. Doch sie konnte sich an keines erinnern. Worte hätten auch nicht geholfen, das Entsetzen zu beenden, das ihren Körper vor Tagen erfasst hatte.
Sie sah Grace beim Weinen zu. Ihre Tränen flossen unerbittlich in das schwarze Taschentuch, das sie an ihre Wangen presste. Half ein schwarzes Stück Stoff dabei, die Trauer hinauszulassen? Trauer – ein grausiges Wort. Die Menschen erwarteten von Selene, dass sie trauerte, dass sie weinte und sich an jemanden anlehnte, sich helfen ließ. Doch genau das konnte sie nicht oder wollte sie nicht. Spielte keine Rolle. Es würde nicht geschehen. Und die Erleichterung, die in vielen Gesichtern zu sehen war, bestätigte Selene in ihrer Haltung.
Verdammt noch mal! Ihr sollt nicht erleichtert sein!
Charlie Johnson hatte an einer Krankheit gelitten, wie viele andere Menschen auch. Es war keine seltene Krankheit gewesen, keine unerforschte, sondern schlicht und einfach Krebs. Bauchspeicheldrüsenkrebs. Wozu dieses Organ nützlich sein sollte, hatte Selene nie begriffen. Mit dieser Art von Krankheit ging einher, dass man sich quälte. Dass man Schmerzen litt, bis zu einem Punkt im Leben, wo eben dieses nur noch aus Qualen bestand. Charlie hatte ihre Erlösung bekommen. Und nun stand Selene als einzige Verwandte am Grab und sollte sich von ihrer Mutter verabschieden.
Etwas peitschte gegen die Fenster. Regen.
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