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Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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sich dem Bahnhof näherten, kamen sie an einem verlassenen Haus vorbei. Fenster und Türen fehlten, doch man hatte ein handgeschriebenes Plakat daran befestigt, auf dem stand »Versammlungshaus des Soldaten- und Seemänner-Komitees«, und darunter »Büro für städtische Fragen und Streitfälle«.
    Zerlumpte Zivilisten, die unterernährt und teilnahmslos wirkten, und Soldaten, von denen die meisten nicht älter als Alexis zu sein schienen, lungerten mit Zigaretten im Mund herum, die Bajonette im Anschlag. Die Bahnanlagen waren offensichtlich verlassen, denn auf dem ganzen Bahnhof lagen so viele verbeulte Stangen und Kolben herum, dass Calder sich fragte, ob der wartende Zug genügend Maschinenteile hatte, um abfahren zu können.
    Ein kleiner Mann, vermutlich der Stationsvorsteher, stand in der Mitte des Bahnsteigs in einer Menschenmenge. Calder versuchte mit dem letzten Smaragd, Fahrkarten zu kaufen, doch der Mann riss ihm den Edelstein aus der Hand, steckte ihn ein und sagte, was er allen sagte – er sei nicht zuständig. Calder roch Rauch, und plötzlich rannte die Menge zu dem wartenden Zug, als die Pfeife ertönte.
    »Lauf!«, schrie der Mann hinter Calder. Seine Stirn war gefurcht, und er hatte dunkle Schatten unter den Augen. Calder wusste nicht, ob es menschlich oder übersinnlich war, was die Menschen in Angst und Schrecken versetzte. Er nahm die Kinder an der Hand und zog sie zum nächstgelegenen Waggon. Nachdem sie sich in den Zug gedrängt hatten, standen sie Schulter an Schulter im Gang, während die Maschine qualmte und knurrte wie ein sterbender Drache. Schließlich setzte sich der Zug in Bewegung, und die Menschen verteilten sich auf die Waggons. Schon bald konnten Calder und die Kinder sich sogar setzen.
    Auch wenn der Seelenhüter keine Verlorenen ausmachen konnte, schien es, als hätte eine biblische Plage das Land befallen. Glasscherben glitzerten entlang der Schienen, und sie fuhren an einem Autowrack vorbei, das aussah, als hätte ein Zug es meilenweit vor sich her geschoben. Die Geschäfte waren nicht nur geschlossen, die Türen standen weit offen und hingen oft nur noch halb in den Angeln. Minen und Bauernhäuser waren niedergebrannt und verlassen.
    Alexis beobachtete schweigend die vorüberziehende Zerstörung, und Calder wusste, wie hart es für den Jungen sein musste, das alles mit anzusehen – dieses gefallene Land, das zu zerstören seine Familie beigetragen und das wiederaufzubauen er keine Gelegenheit mehr hatte. Ana saß zwischen ihnen und hielt versteckt Calders Hand. Schon bald schlief sie mit dem Kopf an seiner Schulter ein.
    »Wirst du uns in den Himmel begleiten?«, fragte Alexis.
    »Um ehrlich zu sein«, antwortete Calder, »bin ich nicht sicher, inwieweit man mir erlauben wird, mit euch zu gehen, aber hab keine Angst. Wenn wir auf der Passage sind, wird man euch sicher zu eurer Familie bringen.«
    »Die Sache ist die«, sagte Alexis, »ich hatte nie richtige Freunde, außer Nagorny. Ich durfte nicht wie die anderen Kinder spielen, und niemand durfte mir zu nahe kommen, weil meine Krankheit ein Geheimnis war.« Er hielt inne, überlegte sich seinen nächsten Satz genau. »Du bist gar nicht so übel, jetzt, da ich mich an dich gewöhnt habe.«
    Wenn Calder sich nicht täuschte, wollte ihm der Junge gerade sagen, dass er ihn vermissen würde.
    »Ana bist du auch nicht gleichgültig«, fuhr Alexis fort, »falls du es noch nicht bemerkt haben solltest.«
    * * *
    Wie seine Schwester schlief Alexis so tief wie auf See und war kaum aufzuwecken. Als sie Jekaterinburg in der frühen Morgendämmerung erreichten, schüttelte Calder ihn kräftig. Dann stieß er Ana sanft an, die ihn sofort ausschimpfte.
    »Ich wollte doch mit dir zusammensitzen, warum hast du mich nicht geweckt?«
    »Ich habe auch geschlafen«, erwiderte Calder.
    Sie lächelte. »Begleiter können also doch lügen.«
    Sanft rüttelte sie ihren Bruder und rief seinen Namen, bis er die Augen öffnete. Auch Alexis schien sich kaum auf den Beinen halten zu können, doch keiner der beiden beklagte sich. Noch am Bahnhof puderte Ana sich und ihren Bruder zur Sicherheit nach. Ihr braunes Kleid war am Kragen und an den Manschetten schon ganz weiß. Ana trug es jetzt schon so lange, dass sie ihm ein eigenes Leben verpasst hatte. Wenn jemals eine andere Frau es anzöge oder selbst wenn es nur auf einer Wäscheleine hinge, würde es sich gewiss immer noch mit ihrer natürlichen Anmut bewegen.
    Am Bahnhof herrschte ein einziges

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