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Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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Calder ihn damals gefragt hatte, ob da ein Missverständnis vorliege, hatte er nur gelacht.
    »Warum denn?« Er hatte die dicken Arme verschränkt und ihn von oben bis unten angesehen. »Hast du was angestellt?«
    »Ja«, hatte Calder geantwortet und daran gedacht, wie er davongelaufen war, anstatt Pincher beizustehen.
    »Du hast nicht das Richtige getan?«, fragte Liam. »Das ist alles?«
    »Ja.«
    »Jeder macht Fehler«, sagte Liam. »Sei dankbar, dass du dir dessen bewusst bist. Manche Seelen kommen nie dahin.«
    »Warum ich?«, fragte Calder. »Du weißt, dass ich kein Edelmann bin, oder?«
    Liam stampfte mit dem Fuß auf, als er wieder in Gelächter ausbrach. »Besser gut als edel. Eine gute Seele gibt ihrem Hund die Hälfte von ihrem Essen ab, liebt ihre Freunde, selbst wenn sie weit weg sind, und vergibt denen, die sie hassen.« Er lächelte. »Eine gute Seele singt der Trauer ins Gesicht, steht auf und lebt bewusst jeden Morgen, den sie zur Verfügung hat.« Liam tätschelte ihm die Schulter mit seiner Pranke. »Du bist ein guter Junge.«
    Calder konnte sich noch genau an das Gewicht der Hand erinnern. Als er jetzt in Anas Gesicht blickte, deren Wangen das Licht einen rosigen Schimmer verlieh, schien alles ausgeglichen durch den Frieden, den er in ihrer Gegenwart verspürte: der Schmerz, nach seiner Geburt zum Sterben irgendwo abgelegt worden zu sein, und der Schmerz, nicht gestorben zu sein. Das Überleben ohne Eltern, Nächte ohne Zuhause, Tage voller Hunger, die Einsamkeit als Begleiter. Wenn seine ganzen dunklen Jahre dazu da waren, ihn hierher zu führen, dann seien sie gesegnet. Die Erinnerung, neben Ana an Deck der
Comhartha Ó Dia
zu sitzen, würde ihn durch zehntausend dunkle Meilen bringen.
    * * *
    Als Ana an seiner Schulter einschlief, dachte Calder, er hätte den Captain in Finns Gesicht gesehen, als er neben dem Vormast stand, und etwas von Liam in Lukes Augen. Tomas stand am Steuerrad, und Calder spürte, wie sie sich von den verlorenen Seelen entfernten.
    Als sie in einer steinigen und waldigen Bucht in der Nähe vom Kronstädter Hafen ankerten, sah er im Westen nur noch weiße Wolken am Himmel. Tomas fuhr sie mit einem Floß an Land, das auf dem Dach der Kajüte befestigt gewesen war.
    »Der Bahnhof ist im Norden, gleich hinter dem Wald«, erklärte er ihnen.
    Calder half Ana und Alexis an Land und gab Tomas zwei englische Pfund. »Bring deiner Frau Wein mit«, sagte er.
    Tomas nahm die Münzen und bedankte sich. »Weißt du«, sagte er dann leise, »Menschen, die mit uns reisen, verlieben sich immer. Man kann nichts dagegen tun.«
    Calder wollte es zuerst leugnen, dann lächelte er nur errötend, was Tomas zum Lachen brachte. Am liebsten hätte er keinen Abschied genommen. Diese Seereise war die schönste Zeit bisher auf Erden gewesen, und wahrscheinlich hatten Ana und Alexis die friedlichsten Tage verlebt, seit man sie von ihrer Familie getrennt hatte. Calder dachte nun, wie dumm er als Kind gewesen war, sich nicht Pinchers Familie anzuschließen, sondern allein auf der Straße zu leben. Sie hätten ihn sicher ebenso gut behandelt wie ihre Nachkommen.
    Tomas musste das Zögern in Calders Gesicht bemerkt haben, denn er schlug ihm herzlich auf den Rücken. »Wir werden dich nicht vergessen, mein Freund. Vielleicht schreiben wir ein Lied über Calder, den Wundertäter, und deine Nachkommen werden in vierhundert Jahren nach London kommen und es uns singen hören.«
    »Ich weiß nicht, was als Nächstes passieren wird«, antwortete Calder leise, er wollte nicht, dass die Kinder ihn hörten. »Ich würde alles für ihre Sicherheit tun.«
    Tomas zuckte mit den Schultern. »Keiner weiß das. Mach dir keine Sorgen – du warst an Bord der
Comhartha.
Jeder, der mit ihr gesegelt ist, ist für immer gesegnet.«
    Calder kletterte die Böschung hinauf, auf der Ana und Alexis warteten. Durch einen Kiefernhain erreichten sie die Straße, die nach Kronstadt führte.
    Alexis schien immer noch halb zu schlafen. »Ich muss meine Landbeine erst üben«, sagte er. Das erinnerte Calder daran, wie hart es für ihn gewesen war, in die Welt der Lebenden zu kommen und seine Erdenbeine zu üben. Ana hielt Calders Hand, was Alexis – so er es überhaupt merkte – nicht kommentierte.
    Kronstadt sah aus wie von einem heftigen Sturm gebeutelt. Zäune und Dächer der Gebäude waren zerstört und schmutzig, nichts war repariert worden. Wände, die einst mit Fresken bemalt gewesen waren, waren nun eingeschlagen. Als sie

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