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Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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eigenes Gesicht. An seinen Fingern war kein Blut, doch Ana sah es. Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und drehte es in den Sonnenaufgang.
    »Wie haben sie dich verletzt?«, fragte Alexis.
    »Mir fehlt nichts«, antwortete Calder. Er kniete sich auf den Boden und wühlte in dem Haufen Asche und Blätter, bis er die Kette mit dem Schlüssel gefunden hatte.
    Calder fragte sich, ob Rasputin recht hatte. Mussten sie ihn vielleicht gar nicht mit in den Himmel nehmen? Könnten sie auch ohne ihn eine Tür heraufbeschwören?
    Als er sich die Kette über den Kopf ziehen wollte, verspürte er eine schwere Trauer. Sein Zuhause war vielleicht in greifbarer Nähe. Viele der Seelen, die er begleitet hatte, hatten ihn bei ihrem gemeinsamen Weg kaum bemerkt. Nun fragte er sich besorgt, ob Ana und Alexis sich überhaupt an die Reise erinnerten, wenn sie erst einmal durch die Todestür getreten waren. Er hielt den Schlüssel in der Hand, legte ihn sich jedoch nicht um den Hals.
    »Alexis«, sagte er. »Du hast einen starken Geist.«
    Der Junge wirkte erschüttert. »Du kommst doch mit uns?«, fragte er.
    Doch Ana wusste die Wahrheit – nichts war sicher. Er wollte ihr sagen, was er für sie empfand, laut aussprechen, dass er sie liebte, aber er konnte es nicht.
    »Du wolltest uns nicht verlassen«, erinnerte sie ihn.
    Ich würde alles tun,
dachte er,
um für immer an deiner Seite zu sein.
Laut sagte er: »Macht euch keine Sorgen.« Er holte tief Atem, um sein wild klopfendes Herz zu beruhigen, und legte sich die Kette um. Dann straffte er den Rücken und sprach die Formel: »Hinter dieser Tür wartet der Himmel.«
    Die Sonne erhellte den Himmel im Osten, ein blasser Nebel hing über der leeren Ebene im Westen – kein Vogel, keine Grille, nicht einmal der kleinste Windhauch war zu sehen. Calder drehte sich langsam um sich selbst und suchte nach der Tür, da er nicht wusste, wie nah oder weit von ihnen sie sich auftun würde. Würde es ein Vorhang sein? Ein eisernes Tor, ein Sargdeckel? Doch da war nichts. Keine Tür.
    Er zitterte bei der Vorstellung, dass er seine zweite Aufgabe – die Kinder zu retten – womöglich nicht erfüllen könnte. Das Beben ergriff seine Arme und Beine.
    »Ich will dein Lehrling sein«, sagte Alexis. »Gib her.«
    Calder legte ihm die Kette um, und der Junge drehte sich mit dem Schlüssel in der Hand einmal um sich selbst. »Hinter dieser Tür wartet der Himmel.«
    »Versuch du’s«, sagte er zu seiner Schwester. Er zog sich die Kette vom Hals und gab Ana den Schlüssel.
    Sie warf Calder einen unsicheren Blick zu, legte sich jedoch die Kette um. Dann küsste sie den Schlüssel, sagte: »Hinter dieser Tür wartet der Himmel«, und drehte sich langsam einmal um sich selbst. »Der Himmel wartet.«
    Keine Tür.
    »Ich weiß«, sagte Alexis. »Gib ihn dem Lehrmeister zurück.«
    Ana ging zu Calder, nahm die Kette ab und hielt inne. Der Seelenhüter neigte den Kopf, und sie legte ihm sanft sein altes Utensil um. Dann öffnete sie seine Hand, legte den Schlüssel hinein und schloss seine Finger darum. »Ich reiche dir den Schlüssel weiter«, sagte sie. »Mein Auserwählter.«
    Calder beugte sich zu ihr wie ein Bräutigam, der die Braut küssen will, doch Alexis unterbrach ihn.
    »Sag die Worte!«
    Der Begleiter konnte den Blick nicht von Ana abwenden. Auch nachdem sie seine Hand freigegeben hatte und zurückgetreten war, sah er nur sie.
    »Beschwör die Tür«, forderte ihn Alexis auf.
    Der Klang seiner Stimme, die mit letzter Kraft gesprochenen Worte, rissen Calder aus seiner Verzauberung.
    »Hinter dieser Tür«, sagte er feierlich, »wartet der Himmel.«
    Alexis blickte sich panisch um und flüsterte die Beschwörung. Anas Lippen waren leicht geöffnet, als ob sie etwas sagen wolle, jedoch keine Worte hatte.
    Blinzelnd musterte er den Schlüssel, fühlte den Umriss aus Metall zwischen Daumen und Zeigefinger, bemerkte die Asche auf dem Schaft. Er hatte Rasputin an die Dämonen verloren, und jetzt konnte er Ana und Alexis nicht nach Hause bringen.
    Calder war übel vor Furcht. Wenn er Ana ansah, war sein Blick klar, doch wenn er den Blick von ihr und dem Jungen in Richtung der Tür abwandte, wurde seine Sicht verschwommen.
    Er war am Ende angekommen – er hatte keine Antworten, keine Kraft, keine Macht, die beiden Menschen zu beschützen, die ihm am meisten auf der Welt bedeuteten.
    Er wusste keinen sanften Weg, es ihnen mitzuteilen, weshalb Calder geradeheraus sprach.
    »Ich habe versagt«, sagte er.

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