Seelenhüter
Männer hatten schon so viel für sie getan. »Ja«, antwortete er. »Wir werden verfolgt.«
»Den meisten Schiffen können wir entkommen, alle anderen können wir mit Tricks abhängen.« Sein zuversichtliches Lächeln verschwand, als er Calders Gesichtsausdruck sah.
»Uns verfolgt nichts Irdisches«, flüsterte Calder.
Tomas legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Du bist von Gott gesegnet, das merkt man«, sagte er. »Alles, was dir Schaden zufügen will, muss böse sein. Dein Feind ist mein Feind. Wollen wir gemeinsam kämpfen?«
Calder wünschte, er könnte das Herz und die Kraft dieser Männer gegen die verlorenen Seelen verwenden. »Ich danke dir, aber das wird nicht funktionieren«, sagte er. »Es reicht, wenn ihr uns schnellstmöglich nach Russland bringt.«
Tomas klopfte ihm auf den Rücken. »Schnell wie der Wind.«
Als sie wieder Segel setzten, kamen die dunklen Wolken in ihrem Rücken näher, und die Verlorenen, die auf dem Meer wandelten, waren nahe genug, um einen vom anderen unterscheiden zu können – eine alte Frau, die wütend die Stirn runzelte, ein magerer Mann, dessen Schädel unter der aderigen Haut beinahe sichtbar war, ein Jüngling, der eine Laterne schwang. Alle starrten Calder mit großen schwarzen Augen an, selbst die Schwimmer, die wie die Schwänze einer Seeschlange immer wieder geschmeidig auftauchten.
Calder erinnerte sich, dass Rasputin nur dann zu einem Ort auf der Welt fliegen konnte, wenn er ihn kannte: sein Haus in Sibirien, der Katharinenpalast, die Pyramiden von Gizeh. Wenn er sich nicht sicher war, brauchte er anscheinend Tage oder Wochen. Die Kreaturen, die sie verfolgten, funktionierten vielleicht ebenso. Wie Motten, die vom Lampenlicht angezogen werden, jedoch verwirrt sind, sobald das Licht gelöscht wird, würden die Verlorenen hoffentlich ihre Spur verlieren und das Erstrahlen nicht mehr sehen, da Ana sich wieder mit Puder getarnt hatte.
Calder versuchte sich auf den Horizont im Osten zu konzentrieren, doch Furcht nagte an ihm.
»Tu es nicht«, sagte Ana. »Du versuchst, alle Probleme der Welt allein zu stemmen.«
Viel mehr dieser Probleme, als sie sich vorstellen konnte, waren seine Schuld. Das Land der verlorenen Seelen, die Passage und die Welt der Lebenden litten unter seinen Fehlern. Im Osten schien die Morgensonne unter einer weißen Wolke – sie beschien die Gesichter von Tomas, Finn und Luke mit einem hoffnungsvollen Strahlen. Jeder von ihnen wäre ein stärkerer Führer gewesen, dachte Calder.
»Warum hat Liam nur gedacht, dass ich ein guter Begleiter sein würde?«, fragte er sich laut.
»Wer ist Liam?«, fragte Ana.
»Mein Lehrmeister«, erklärte er. »Ich war kein edler Musikant. Ich war ein Bettler und ein Dieb.«
»Armut ist nichts, weswegen man sich schämen müsste«, sagte Ana. »Warum sollte ein Bettler nicht eine ebenso schöne Stimme haben wie ein König?«
»Ich konnte nur eines wirklich gut: Überleben«, sagte Calder. »Ich weiß nicht, warum er mich gewählt hat.«
Ana erwiderte: »Ich weiß es.«
Er schämte sich, dass ihn ihre Worte mit Freude erfüllten. Sie segelten dicht an der Küste und kamen gerade an einer kleinen Landzunge vorbei.
»Du durftest nie die Passage entlanggehen«, sagte Ana. »Begleiter sehen kein Theater oder eines der anderen Dinge?«
»Stimmt.«
»Du weißt, dass du gestorben bist. Vielleicht brauchst du deshalb kein Theater oder Festmahl«, sagte sie. »Du hast deine Galerie bei dir. Aber du brauchst deinen Garten.«
Er wusste, was sie damit sagen wollte, doch sein Herz regte sich bei der Vorstellung nicht.
»Ich habe sehr behütet gelebt«, sagte Ana. »Ich hatte keine Zeit, etwas zu erreichen. Vielleicht wäre ich Ärztin geworden oder Schauspielerin oder Dichterin, aber ich hatte keine Gelegenheit. Du jedoch«, fuhr sie fort, »denk an all die Seelen, denen du den Weg in den Himmel gezeigt hast.«
Als die
Comhartha
eine kleine, dicht bewaldete Halbinsel umrundete, schien die Sonne auf einen Hügel voller Blumen, ein Teppich mit roten und lilafarbenen Tulpen, der genauso plötzlich hinter einer Anhöhe verschwand.
»Was ist los?«, rief Ana, als ob Calder vom Blitz getroffen worden wäre.
Sie hatte die Blumen nicht gesehen, und zu ihrer Verärgerung lachte er nur. Die Blumen hatten ihn nicht nur für einen Moment erfreut, sie hatten ihm auch eine längst vergessene Unterhaltung ins Gedächtnis gerufen. Er erinnerte sich, was Liam gesagt hatte, als er ihm den Schlüssel überreichte. Als
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