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Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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Chaos. Man hatte ein Plakat an eine Wand genagelt, auf dem zwei Zeichnungen zu sehen waren: Nikolaus auf der einen Seite mit den Worten »Gott schläft« und zwei Männer, wohl Revolutionsführer, auf der anderen Seite mit den Worten »Gott wacht«.
    Ana und Alexis betrachteten das Bild ihres Vaters einen Moment lang, dann drehte sich das Mädchen seufzend um und ging weg, während Alexis sich an Calder wandte. Er sagte jedoch nur: »Ich dachte, die glauben nicht an Gott.«
    Um diese Uhrzeit war kaum jemand unterwegs, als sie den Weg zum Haus zur besonderen Verwendung einschlugen. Ana fragte: »Glaubst du, irgendwer wird uns erkennen?«
    »Mit dem kurzen Haar und der dicken Puderschicht«, sagte Alexis, »würde uns nicht einmal Mutter erkennen.«
    Als sie sich dem gefürchteten Ort näherten, verlangsamten Ana und Alexis ihren Schritt, als ob das Erstrahlen ihnen die letzte Kraft raubte.
    Calder fühlte das Gewicht von Rasputins Körper. Jeder Schritt kostete Überwindung.
    »Wir sind einmal um die Welt gereist«, sagte Alexis außer Atem. »Wie die Ritter in den Märchen.«
    Ana hielt seine Hand fest, mit denselben widerstreitenden Gedanken, die auch an seinem Herzen zerrten, er konnte es fühlen. Sie hofften zwar, den Himmel bald zu finden, doch dann würden sie getrennt werden.
    Er erkannte das Haus kaum wieder. Der vorher unüberwindliche Zaun lag in Stapeln ein paar Meter von der Westmauer entfernt auf der Erde. Jetzt war es ein ganz normales Haus, das einen anderen Zweck hatte. Bis auf ein schwaches Licht im Obergeschoss waren alle Fenster dunkel.
    Calder bezweifelte, dass hier normale Leute untergebracht waren, denn vor der Haustür lag eine Soldatenjacke über einem Holzstuhl. Vielleicht war es jetzt irgendein Militärbüro. Ana und Alexis starrten mit großen Augen auf das Gebäude.
    »Wir werden nicht hineingehen müssen«, versicherte Calder ihnen. »Von den Soldaten da drinnen gehört sicher keiner zu euren früheren Wachen«, flüsterte er, auch wenn er es nicht genau wusste.
    Er ging mit ihnen in sicherer Entfernung die Nord- und die Westseite des Hauses ab. Alexis behielt das erleuchtete Fenster im Auge, das einst sein Zimmer gewesen war.
    »Schau nicht hin«, sagte Ana.
    Calder versuchte, den Kindern den Blick zu versperren. Als sie sich den Bäumen in der Ecke des Anwesens näherten, entdeckten sie einen Berg verbrannter Gegenstände im Gras. Hauptsächlich bestand er aus Asche, doch einige Stücke aus dem Leben der Romanows hatten das Feuer überstanden: der Griff einer Haarbürste, ein Rad des Rollstuhls, selbst die Fotografie von Calder, auf der er wie Rasputin aussah; nur der untere Teil seines Gesichts war verkohlt.
    Am Rand lag die Kette, gekräuselt wie schwarzer Farn, Calders Schlüssel halb unter der Asche begraben. Er beugte sich hinunter.
    »Vorsicht«, sagte Alexis. »Er ist immer noch heiß.«
    »Er hat recht«, sagte Ana. »Bemerkst du nicht den Brandgeruch?«
    Die Asche um die Kette herum warf Blasen, weshalb Calder einen Schritt zurücktrat. Wieder bewegte sich die Asche, und die Kette zuckte, als wäre sie am Leben.
    Der Umriss eines Mannes, die geisterhafte Gestalt Rasputins, erschien so langsam wie ein Sonnenaufgang. Er kniete über dem Schlüssel, schlug verärgert darauf ein, weil er ihn nicht von dem Fleck bewegen konnte, an dem er seit der Nacht, in der Ana und Alexis von ihrer Familie getrennt wurden, gelegen hatte.
    Ein Grollen wuchs ihn Rasputins Kehle, und er wandte das Gesicht abrupt Calder zu, die Augen schwarz und leer – die eines Fremden.

34.
    R asputin heftete sich ihm an die Fersen, und ein schwarzer Nebel erhob sich wie ein Heiligenschein über seinem Kopf. Seine Augen wurden wieder klar. »Seit Tagen stochere ich an diesem erbärmlichen Holzkohlehaufen herum«, sagte er. »Wenn ich das verdammte Ding doch nur greifen könnte …«
    »Es ist nicht für dich bestimmt«, widersprach Calder.
    »Für wen?«, fragte Alexis.
    Ana brachte ihn schnell zum Schweigen. Die zwei konnten Rasputin weder sehen noch hören, nur den dämonischen Rauch riechen, das Zeichen für seine Besessenheit.
    »Ich wollte mir einen Körper ausleihen«, sagte Rasputin seufzend. »Doch keiner hat mich reingelassen.« Ein unbehagliches Lächeln verzerrte sein Gesicht. »Jetzt bist du hier, und ich will meinen Körper zurück.«
    »Nein«, sagte Calder bestimmt. »Du bist nicht allein. Wie viele Seelen verstecken sich in dir?«
    Rasputin schwebte hinauf in die Schatten, und nun hatte er viele

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