Seelenhüter
und sah, dass er sich im Obergeschoss eines Wohnhauses befand, das mitten in einer Stadt an einer Straße stand.
Der Raum war nur spärlich möbliert, mit einem Holztisch samt Stühlen, einer schäbigen Küchenzeile in einer Ecke sowie einem dunklen und verkratzten Schrank. Am meisten irritierte Calder jedoch das Paar Damenhandschuhe auf dem Esstisch. Er fürchtete, Rasputin habe eine Frau, die jeden Moment auftauchen, ihn bei seinem Kosenamen nennen und erwarten könnte, in einer geheimnisvollen Sprache angesprochen zu werden. Calder wollte sich vor seinem ersten Treffen mit Glory waschen und seine verschmutzte Kleidung wechseln, doch er würde sich beeilen müssen.
Die vielen neuen Empfindungen verwirrten ihn – die Haare auf Armen und Handrücken, die alle eine Botschaft durch seine Nervenbahnen schickten, die Beschaffenheit seiner Fingerkuppen, die Bewegungen der Gelenke in den Füßen und Knien. Er schrubbte Rasputins Körper und Haare mit kaltem Wasser und Seife und putzte sich die Zähne. Danach entdeckte er zwei kleine Schlafzimmer – wohl seines und das seiner Frau – und nahm aus dem Schrank frische Kleidung.
Als er in der Kommode nach einem Kamm suchte, fand er einen großen Vorrat an Papiergeld, zum Teil sorgfältig gefaltet, zum Teil achtlos zusammengeknüllt, sowie diverse Goldmünzen, zusammen mit Bindfaden und abgerissenen Theaterkarten. Außerdem entdeckte er mehrere Dutzend Nachrichten auf kleinen Zetteln, die nicht größer als seine Handflächen waren. Auf allen stand dasselbe:
Mein teurer und geschätzter Freund, tut dies für mich.
Es war dieselbe Nachricht wie in der Galerie auf der Passage in den Himmel.
Im Badezimmer fand Calder schließlich einen Kamm und versuchte, ihn durch die nassen, verfilzten Haare zu ziehen, gab das Unterfangen jedoch auf, als ein Zacken herausbrach und ein kleines Stück Elfenbein über der Schläfe in seinem Haar stecken blieb. Er musterte Rasputins Gesicht im Spiegel, das seltsame Bild eines verwirrten Neptuns.
Als er die Wohnungstür öffnete, warteten drei Menschen auf dem Treppenabsatz. Der junge Mann, der eine als Geschenk verpackte Flasche Wein in der Hand hielt, wollte eine Rolle in einer der nächsten Opernaufführungen haben. Eine junge Frau, die ein tiefausgeschnittenes Kleid und einen schäbigen Umhang trug, sagte, sie sei wie verabredet zu ihrer Heilung hier, obwohl sie vollkommen gesund wirkte. Und ein alter Mann, der eine Bibel an sich drückte, verlangte zu wissen, was Rasputin seine Frau gelehrt hatte.
Calder war so verwirrt von den auf ihn einprasselnden Bitten, dass er nur ein »Seid still!« herausbrachte. Die schwere Zunge, der sich wölbende Gaumen, die Vibration seiner Stimme, die in seinem Kopf widerklang, erschreckten ihn. Die drei Menschen standen stumm da und warteten auf seine Anweisungen. Calder brachte es nicht fertig, sich ihnen gegenüber als Rasputin auszugeben. Bevor er die Treppen hinunterfloh, rief er ihnen zu: »Kommt nächste Woche wieder!«
Er konnte ihre Blicke in seinem Rücken spüren und hoffte, sie würden seinen unsicheren Schritt auf den Alkoholeinfluss zurückführen. Woher sollten sie auch wissen, dass er ein Begleiter war, der erst wieder das Gehen erlernen musste. Er klammerte sich am Treppengeländer fest, bis er in einen kleinen Hof kam, wo ihn zwei uniformierte Männer begrüßten, die er für Ordnungshüter hielt. Auch wenn sie sich beide verbeugten und an ihre Hüte tippten, war ihr Gesichtsausdruck weniger respektvoll.
Einige Menschen warteten im Hof auf Rasputin. Ein Mann in einem dunklen Mantel und mit Hut rannte auf ihn zu und nestelte umständlich etwas aus seiner Tasche. »M-meine Tochter …«, stotterte er. Ein eisiger Windstoß lüpfte ihm den Hut vom Kopf und rollte ihn über den Hof auf die Straße, als ob er den Rest der Szene nicht mit ansehen wollte.
»Nichts da!« Die beiden Polizeioffiziere machten einen Schritt auf den Mann zu, als dieser eine große silberne Pistole aus dem Mantel zog.
»Sie wissen nicht, was dieser Mann getan hat!«, flehte der Mann. »Das Mädchen ist erst sechzehn.« Die beiden wanden ihm die Waffe aus den Fingern und zerrten ihn davon, sein dünnes Haar vom Wind zerzaust. Calder fühlte sich schuldig und abgestoßen zugleich, auch wenn er natürlich keinerlei Erinnerung an Rasputins Sünden hatte.
Als Nächstes kam eine junge Frau auf ihn zu, die ein Bündel im Arm trug. »Bitte, Vater, segnet mein Kind.«
Über ihre Schulter hinweg erblickte Calder etwas
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