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Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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Ohren, kitzelten sie wie Insekten. Als er seine Hände spürte, die sich an Hals und Brust griffen, nahm er erleichtert zur Kenntnis, dass er Rasputins Körper unter Kontrolle hatte. Er blinzelte mit trockenen Lidern und bestaunte seine Sicht auf die menschliche Welt durch Rasputins Augen. Wie durch einen dichten Nebel wurden die Objekte um ihn herum nach und nach klarer.
    Bald sah er alles gestochen scharf: die Risse in der fleckigen Zimmerdecke, die abblätternde Tapete, die fahlen Farben. Hier war der Himmel grau, der Stoff seines Ärmels ein trübes, schwaches Schwarz, und die Wände waren von einem verblichenen Blau. Er hob die Hand vor Augen, musterte seine Umgebung eingehend und befand, dass die Schattierungen, die Rosa-, Gold- und Brauntöne der menschlichen Haut nicht reproduzierbar waren. Dies waren die einzigen Farben, die im Himmel nicht prächtiger waren.
    Rasputin war anscheinend bereits in das Land der verlorenen Seelen verschwunden. Noch bevor Calder versuchte, sich aufzurichten, spürte er den übelkeitserregenden Rhythmus des Erdballs, die Geschwindigkeit und Drehung, den Zug der anderen Planeten und die Kraft der fernen Sonne, die alles antrieb.
    Er fühlte einen leichten Schwindel, richtete sich dennoch auf und zwang sich aus der Wanne in seinen ersten Kampf mit der Schwerkraft seit drei Jahrhunderten.
    Calder öffnete die Faust, in der immer noch der Schlüssel lag. Er sah noch genauso aus wie auf der Passage, dieselbe Größe, derselbe Bart, derselbe Griff, nur war er nun aus stumpfem Metall. Als sein Lehrmeister Liam ihm damals seinen Schlüssel überreicht hatte, war der Griff wie zwei Blätter geformt gewesen: auf dem linken war eine winzige Raupe eingraviert, auf dem rechten die zwei Hälften eines aufgebrochenen Kokons. Der Schlüssel ändert sich mit jedem neuen Lehrling, wie Calder enttäuscht feststellen musste, als sich die wunderschönen Blätter in seiner Hand eines Tages zu etwas Knotenartigem verdrehten. Nun hielt er denselben Schlüssel in der Hand wie zuvor, nur massiv und schwer wie Stein. Selbst die dünne Kette bestand nun aus Metall. Calder streifte sie sich über den Hals.
    Er rieb die rauhen Haare von Rasputins Bart,
seinem
Bart, zwischen seinen großen Fingern. Er versuchte, einen Atemzug zu nehmen, und staunte darüber, wie die Elemente in seiner Lunge umgewandelt wurden. Das Gefühl hatte er vollkommen vergessen. Er konnte das feuchte Handtuch riechen, das an der Wand hing, seine verschwitzte Kleidung und – etwas Unangenehmes. Er hatte einen sauren Geschmack im Mund, und seine Kehle brannte. Calder spie in das kleine Waschbecken und rieb sich über die trockenen Augen.
    Dann machte er einen Schritt auf die Tür zu und fiel auf ein Knie, wobei er sich die Gesetze der Physik erneut zu eigen machte. Mit Haut, Knochen und Muskeln ausgestattet, konnte er alles mit erstaunlicher Klarheit fühlen: den harten Boden, auf dem er kniete, oder das glatte, kühle Waschbecken, an dem er sich beim Aufstehen festhielt.
    Für einen Moment wurde es schwarz um ihn herum, und als er sich die Hände vor die Augen hielt, waren seine kleinen, schmutzigen Finger die eines Kindes. Calder kroch allein durch die Dunkelheit, und ihm war so kalt, als wäre er etwas anderes als ein Junge geworden. Seine Nase war taub, seine Finger waren steif, jeder Atemzug war ein kleiner Geist in der Luft. Wenn er sich doch nur wärmen könnte, dann würde er sich endlich wieder wie ein Mensch fühlen. Er hatte sich unter einer Brücke zusammengekauert, Wolken verschleierten den Mond, der so dunkel am Himmel hing wie eine einzelne Laterne.
    Ich werde heute Nacht nicht sterben,
dachte er.
Morgen ist vielleicht der Tag, an dem sie zu mir kommt.
    * * *
    Als die Vision verblasste, saß Calder in Rasputins Badezimmer und starrte auf seine ungewohnt dicken Finger.
    Ganz ruhig,
sagte er sich.
Das ist nur der Schock, wieder in einer Hülle aus Haut und Fleisch zu stecken.
    Er fuhr sich mit den Händen über den Körper, die Gliedmaßen, den Nacken. Offensichtlich war er vollständig und unverletzt. Als er bemerkte, dass sein Mantel mit Erbrochenem besudelt war, zog er ihn aus und legte ihn in die Badewanne. Erneut versuchte er, zur Tür zu gehen, und diesmal gelang es ihm.
    Dies ist sicherlich nicht die Art Behausung, in der man einen Favoriten des Zaren zu finden vermutet,
dachte Calder. Das Badezimmer führte in einen öden, trostlosen Raum, wahrlich eine bescheidene Umgebung. Er blickte durch das vorhanglose Fenster

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