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Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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Wanne lagen, fiel hinter ihnen die Todestür ins Schloss.
    * * *
    Calder wusste zunächst nicht, welchen Schaden seine Tat im Himmel angerichtet hatte oder welchen verheerenden Einfluss sie auf die Welt der Lebenden haben würde. Er und der Mann, ebenso jeder andere Einwohner von St. Petersburg, spürten die erste Welle der Unruhe, denn sie existierte tatsächlich – ihr Ton war so tief, dass man ihn eher wahrnahm denn hörte. Kein Gerät zeichnete ihn für die Historiker nachfolgender Generationen auf, doch im Umkreis einer Meile von dem Ort, an dem Calder in die Welt der Lebenden eingetreten war, spürte jedes Lebewesen und jedes von Menschenhand erbaute Gebilde die Erschütterung. Jeder Mensch in der Stadt hielt für einen ahnungsvollen Moment inne und dachte dasselbe:
Irgendetwas stimmt nicht mit der Welt.
    Der Mann fuhr herum. »Was war das für ein Geräusch?«, fragte er.
    Calder konnte den Gedanken nicht ertragen, dass eine Warnung aus der Passage in die Welt der Lebenden durchgedrungen war, weshalb er sich unwissend gab. »Das war nur Donner«, erwiderte er ruhig.
    Der Mann musterte den in der Badewanne liegenden Körper und fragte schließlich: »Was muss ich tun?«
    »Zuerst«, sagte Calder, »nenn mir deinen Namen.«
    »Grigori Rasputin.«
    »Wo sind wir hier?«, fragte der Seelenhüter. »Ist dies dein Haus?«
    Der Mann warf ihm einen misstrauischen Blick zu, als ob er drauf und dran wäre, seine Meinung zu ändern. »Kann ich dir vertrauen?«, fragte er.
    Calder war bestürzt. Er war ein Begleiter, kein anderes Wesen war Pflicht und Ehre ergebener. »Aber ja, natürlich.«
    »Wie werde ich in den Himmel zurückgelangen?«, verlangte Rasputin zu wissen.
    »Als Geist kannst du dich frei auf Erden bewegen, alles sehen und hören. Such mich nach drei Nächten auf.«
    Sie hatten ein Abkommen getroffen, doch nun war es an Calder, auch die Initiative zu ergreifen. Die Begleiter waren sich einig, wie Thresham den menschlichen Körper gestohlen hatte. Man musste sich in das Fleisch hineinsinken lassen, so wie man zuvor den Geist herausgehoben hatte.
    Wenn das nicht funktioniert,
dachte Calder,
werde ich ihn im Land der verlorenen Seelen jagen müssen.
Der Körper lag mit zerknitterter Kleidung und schmutzigem Gesicht in der Wanne und wartete auf ihn. Die Augen wirkten selbst im Tod wild und brennend.
    Da er schon mal dabei war, den Körper in Besitz zu nehmen, fielen ihm Hunderte Dinge ein, die er Rasputin vorher noch fragen sollte. Er wusste nicht, wo sich der Palast der Romanows befand. Hatte Rasputin Frau und Kinder? Doch Calder wollte nicht zu viele Fragen stellen, da der Mann in seinem Entschluss zu wanken schien.
    »Tu es jetzt, solange ich noch willig bin«, bemerkte Rasputin.
    Laut der Geschichten der anderen Begleiter hatte Thresham seinen Schlüssel bei sich behalten und ihn mit in die menschliche Gestalt genommen. Das Gerücht rührte von einer mysteriösen Passage im Neunten Psalm her: Und so ging der Schlüssel von Hand zu Hand und von Licht zu Metall über. Calder hob die Kette über seinen Kopf und hielt den Schlüssel fest umklammert.
    »Nimm meine Hand und kehre in deinen Körper zurück«, sagte Calder. »Danach werde ich mit dir den Platz tauschen und dich freilassen.«
    Rasputin griff nach der Hand, in der Calder den Schlüssel hielt. Mit einem letzten Blick auf den leblosen Körper setzte er seine Geisterfüße auf den Rand der Badewanne und ließ sich rückwärts auf seine menschliche Gestalt fallen. Calder hielt Rasputin fest, während dieser in seinem Körper verschwand, den Schlüssel zwischen ihrer beider Handflächen. In dem Moment, in dem wieder Leben in die wilden Augen des Mannes kehrte, riss er Rasputin zurück und warf sich stattdessen selbst in den Körper. Es war, als ringe er mit einer Schlange aus Wasser – etwas versuchte, ihn zu erwürgen, löste sich jedoch unter seinem Griff in nichts auf. Im nächsten Moment herrschte Stille. Er fühlte sich schwer und fest, so unbeweglich wie ein Grabstein. Und blind. Alles um ihn herum war weiß. Über sich hörte er Rasputin lachen. Das Geräusch verstummte abrupt, als ob die Kerze seiner Stimme ausgelöscht worden sei.
    Panik überkam Calder bei dem Gefühl, dass der Körper tot war – und er darin gefangen. Er schrie auf, ein fremdartiger Laut, der in sanften Wellen durch die Luft glitt. Er konnte ihn hören – ein gutes Zeichen. Entfernte Stimmen, Automobile auf den Straßen, sein menschlicher Herzschlag zuckten in seinen

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