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Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
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stattgefunden hatte. Der Ort war dunkel und ruhig, eine riesige Leere herrschte. Nur die ersten paar Meter der Halle waren sichtbar – der Boden, auf dem die große Tafel gestanden hatte, war leer und verschwand in schwarzen Schatten, als stünde die Halle unter Wasser. Bei diesem Anblick krampfte sich Calders Herz zusammen.
    Um seinen auserwählten Lehrling zu finden, musste er die Sieben Gebote brechen. Doch er war sich sicher, dass man ihm – im Gegensatz zu den Gefallenen Drei – vergeben würde. Gott wollte, dass er Glory den Schlüssel übergab.
    Die Legende von den Gefallenen Drei besagte, dass die Sieben Gebote seit den Tagen von Eden erst dreimal gebrochen worden waren. Der erste gefallene Begleiter, Alphaeta, hatte aus Unzufriedenheit über das, was Himmel und Erde ihm boten, seine Pflichten vernachlässigt und versucht, den Großen Fluss entlangzusegeln, anstatt ihn zu überqueren. Die Infamie dieser Sünde erschütterte den Himmel, gewaltige Regenwolken öffneten ihre großen schwarzen Mäuler, Lava strömte über die Erde wie Blut, die See türmte sich in kochenden Wellen auf, und die Meeresspiegel stiegen an bis zu den Höhen der Großen Flut.
    Den zweiten Gefallenen, Beolucifer, gelüstete es nach Macht, und er trat mit Gott in einen Wettstreit um dessen Thron. Diese Arroganz schickte einen Blitz vom Himmel, so hell wie der Tag, so breit wie ein Fluss, so heiß und stark, dass er die Erde zutiefst erschütterte und den Turm zu Babel einstürzen ließ.
    Der Dritte, ein Körperdieb namens Thresham, sehnte sich danach, wieder ein Mensch zu sein, und stahl den Körper eines sterbenden Mannes, wobei er dessen Seele einfach im Land der verlorenen Seelen zurückließ. Thresham hatte schon viele Sterbliche getäuscht, doch diese Sünde löste eine unterschwellige Erschütterung aus, die sich knarrend durch die Passage fortsetzte, das Wasser des Großen Flusses aufwühlte und an den Himmelstoren rüttelte. Langsam setzte sie sich durch die Luft hinweg fort, ließ die Früchte der Erde schrumpfen, Bäume verfaulen, Vögel im Flug zu Boden fallen und wuchs schließlich unbemerkt in Threshams gestohlenem Fleisch zum Schwarzen Tod heran.
    Calder hatte von der Geschichte gehört, doch er sagte sich, dass er schließlich keinen Diebstahl begehe und der Handel auch nicht für immer sei. Er hatte die Legende von den Gefallenen Drei schon oft gehört, etwa wenn sich eine Todestür zu einem Sterbeort mit mehr als einem Sterbenden geöffnet hatte. Während die herbeigerufenen Begleiter darauf warteten, dass die Seelen ihre Entscheidung über Leben und Tod trafen, erzählten sie sich Geschichten. Auch wenn Calder die tödliche Tragödie stets betrübte, genoss er doch die Kameradschaft und lauschte hungrig den Erzählungen und glaubte sie aus tiefster Seele.
    Der junge Seelenhüter und der Mann kamen nun an der kleinen Puppenbühne vorbei, die leer und verlassen war. Ein Luftzug wehte hindurch und ließ die kleinen Samtvorhänge auf die beiden zuflattern.
    Der Mann sah sich um, als eine Stimme seinen Namen rief. Der Korridor wankte, und ein kalter, feuchter Wind erhob sich um sie herum, der nach Asche roch. Calder hatte noch nie Angst auf der Passage empfunden, doch jetzt war er zutiefst erleichtert, als er die Todestür vor sich auftauchen sah. Sie entsprach dem Bild, das sich der Mann zuvor von ihr gemacht hatte, verziert mit Blumenschnitzereien, Elfenbein- und Perlmutteinlagen.
    »Bist du dir sicher, dass wir den Wünschen des Himmels gemäß handeln?«, fragte der Mann unsicher.
    »Bisher ist noch nie jemandem auf der Passage Leid geschehen«, antwortete Calder. »Hab keine Angst.«
    Tatsächlich war es Calder, der Angst verspürte. Seine Furcht sollte eigentlich ausreichen, um ihn von seinem Plan abzubringen, dennoch nahm er die Kette vom Hals und hielt den Schlüssel bereit, als sie sich der Tür näherten. Etwas in ihm erwachte zum Leben, als ob er zum ersten Mal seit seinem Tod sein Augenlicht zurückerlangt hätte.
    Der Wind ließ die Wände um sie herum erzittern. Sie lehnten sich gegen den Sturm, die Augen fest auf die Tür gerichtet. Der Mann hielt Calders Arm fest umklammert, als ein Knarren, als ob mächtige Steine aneinandermahlten, sich in ihren Rücken erhob. Calder packte den Türgriff mit beiden Händen, während sich der Mann an seiner Taille festklammerte. Kaum waren sie aus der tobenden Passage in das kleine Badezimmer gestürzt, in dem die sterblichen Überreste des Mannes immer noch in der

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