Seelenhüter
Vertrautes, das ihm das Blut in dem noch ungewohnten Körper in den Adern gefrieren ließ. Gleich würde er Zeuge werden, wie sehr seine Handlungen Himmel und Erde aus dem Gleichgewicht gebracht hatten, denn die Legende der Gefallenen Drei war eine Lüge.
Vor Calder waren die Sieben Gebote der Begleiter für mehrere tausend Jahre nicht gebrochen worden.
6.
W ie hypnotisiert beobachtete Calder das Geschehen vor ihm, das nur er sehen konnte. Der Umriss einer goldenen Tür erschien schimmernd hinter der jungen Mutter. Die Frau, das Baby fest an die Brust gedrückt, war ein paar Schritte von Calder entfernt stehen geblieben, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte.
Das Wesen, das durch die goldene Tür trat, wirkte nicht so lebendig wie auf der Passage, dafür glühte der Begleiter so schwach wie eine gelbe Rose in einem mitternächtlichen Garten. Die Todestür wurde weiter aufgestoßen, und Calder umwehte eine Geisterwindsturmböe, als wollte der Himmel seine ganze Wut an ihm auslassen.
Der Seelenhüter hieß Auben – Calder hatte ihn schon einige Male getroffen, zuletzt an dem sinkenden Schiff, kurz bevor er zu Glory geschickt worden war. Auben erkannte Calder ebenso und erbleichte vor Befremden, ihn ohne eine Tür in der Welt der Lebenden zu sehen. Rasputins Körper konnte zwar die Menschen hinters Licht führen, nicht aber einen Begleiter.
Die Frau mit dem Kind machte einen weiteren Schritt auf Calder zu. »Vater Grigori, bitte«, flehte sie. »Helft mir.«
Auben glitt vor sie hin, tauchte sie in goldenes Licht und trat dann mit der Seele des Babys auf dem Arm zurück. Fasziniert beobachtete Calder aus seinem nun irdischen Blickwinkel den Übergang eines Säuglings auf die Passage in den Himmel. Zu seinem Schrecken begann das Baby zu weinen – so etwas war noch nie zuvor geschehen.
Calder stürzte nach vorn, in der Hoffnung, helfen zu können, doch der Geisterwind hielt ihn ab, wie zuvor, als er und Rasputin sich ihren Weg durch die Passage zurück erkämpft hatten.
Warnend hob Auben eine Hand:
Bleib zurück!
Er trat durch den Türrahmen, und mit einem letzten Aufheulen des Geisterwindes schlug die Tür zu und verschwand. Stumm und zitternd stand Calder da, atmete den zarten, blumigen Duft seines Zuhauses ein, der noch in der Luft hing. Er hoffte, dass nicht sein Fall vom Himmel das Kind zum Weinen gebracht hatte, doch er hatte die Kälte in Aubens Augen bemerkt.
»Heilt mein Kind«, sagte die Frau und streckte ihm das kleine Bündel entgegen.
»Es ist zu spät«, erklärte Calder. »Dein Sohn ist tot.«
Der Schmerz auf der irdischen Seite der Todestür ängstigte ihn, daher neigte er wie ein Feigling den Kopf und eilte aus dem Hof, weg vom Wehklagen der Frau. Er hoffte, der Straßenlärm möge ihr lautes Jammern übertönen, doch es drang durch das Brummen der Maschinen und das Geklapper der Pferdekutschen. Es erweckte ein so klägliches Ereignis in seiner Erinnerung zum Leben, dass er stehen bleiben musste.
Calder war wieder ein Kind, das die Hände vors Gesicht geschlagen hatte und bitterlich weinte. Er erinnerte sich nicht an den schmerzlichen Verlust, doch er fühlte sich, als trauere er gerade um jenen Menschen, bei dem er normalerweise Trost gesucht hätte. Die Erinnerung war so schmerzhaft wie eh und je, und die Tatsache, dass er ein Begleiter war, schirmte ihn nicht von dem ab, was er in den Gesichtern der Sterblichen sah, die auf der belebten Straße an ihm vorbeieilten. In jedem Antlitz nahm er eine furchtbare Trauer wahr, tief vergraben und unbewältigt.
Calder zählte dreißig Herzschläge, bevor er sich kräftig genug fühlte, um weiterzugehen. Er konzentrierte sich auf die neuen Empfindungen der greifbaren Welt. Er spürte die Falten seiner Kleidung in den Achselhöhlen, wie der Stoff der Hose bei jedem Schritt seine Kniekehlen streifte. Die Bewegungen seiner Augäpfel irritierten ihn, und er fühlte sich wie ein Gefangener in Rasputins Körper, doch er setzte seinen Weg fort.
Einige der Sterblichen hatten die Mäntel bis zum Hut hochgeschlagen, manche waren zu zweit unterwegs, in eine eifrige Unterhaltung vertieft, viele trugen Militäruniformen mit einem Gewehr über der Schulter. Die Luft roch nach Kaminrauch, Pferden und Maschinen. Die Reifen der Automobile ließen Schnee und Schlamm bis über den Straßenrand spritzen, die Pferdewagen ratterten durch den Matsch. Calder vermisste die Passage so sehr, dass er zu zittern begann.
Doch dann erinnerte er sich an den Grund für seine
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