Seelenhüter
Anwesenheit – Glory den Schlüssel zu geben und sie mit in seine Heimat zu nehmen. Er würde sie finden, und wenn er an jede einzelne Tür in ganz Russland klopfen musste. Auch wenn das leichter gesagt als getan war. Er hatte vergessen, was Raum und Zeit bedeuteten. Wie lange brauchte ein Sterblicher, um eine Meile zu gehen?
Diese Frage machte ihm wieder den sich drehenden Planeten bewusst, das unaufhörliche Fortschreiten der Zeit auf der Erde. Jede Sekunde zog sich das Tageslicht ein winziges Stückchen mehr zurück, Schatten machten sich breit, und die Nacht senkte sich herab wie ein wehender Schleier. Je länger Calder herumstand, desto weniger Tageslicht blieb ihm, um sie zu finden. Die Schatten wurden bereits länger.
Daher sprach er den nächstbesten Passanten an, einen Mann in einem grauen Mantel, der gerade in ein schwarzes Auto einstieg. »Entschuldigung, könnten Sie mir bitte helfen?«
Der Mann lächelte. »Vater Grigori«, antwortete er. »Was kann ich für Euch tun?«
Calder zuckte zurück, da der Mann Rasputin offenbar kannte, doch dann brachte er mit Mühe hervor: »Könnten Sie mir den Weg zum Palast der Romanows sagen?«
»Er hat sein eigenes Auto.« Eine kleine Frau machte sich bemerkbar, die auf dem Vordersitz des Fahrzeuges wartete.
»Er kann nicht fahren«, flüsterte ihr der Mann zu. »Er ist betrunken.«
»Er kann den Zug nehmen«, gab sie missgelaunt zurück.
Doch zu Calders Erleichterung öffnete der Mann die hintere Wagentür und bot ihm an, ihn nach Zarskoje Selo mitzunehmen.
Drei in Papier eingeschlagene Geschenke und eine Flasche Wein lagen auf dem Rücksitz. Die Frau ignorierte Calder, doch der Mann in dem grauen Mantel grinste ihm während der Fahrt einige Male zu, erkundigte sich nach seinem Gesundheitszustand und parlierte über das Wetter. Calder fühlte sich in der Rolle des Rasputin alles andere als wohl. Er lächelte höflich, gab sich jedoch gefesselt von den vorbeiziehenden Häuserzeilen.
Sankt Petersburgs Bauwerke waren mächtig und erhaben, verwittert, aber eindrucksvoll. Überall hingen Eiszapfen von den Simsen, die an Spitze erinnerten. Das Land musste sich im Krieg befinden, denn die Straßen waren voller Soldaten, die im Gleichschritt marschierten oder an den Ecken standen und misstrauisch die Vorbeieilenden betrachteten.
Calders Herz begann wild zu schlagen, als ihm bewusst wurde, dass er Glory vielleicht schon in ein paar Minuten wiedersehen würde. Er versuchte sich vorzustellen, was er zu ihr sagen würde, doch sofort verengte sich seine Kehle. Er würde bei der Wahrheit bleiben müssen, egal wie unglaublich sie klang.
Bei der Übergabe des Schlüssels jedenfalls würde er Liams Worte wiederholen:
Ich reiche dir den Schlüssel weiter, meine Ausgewählte.
Er wusste auch, wie er eine Todestür heraufbeschwören konnte – Liam hatte es ihn gelehrt. Wenn ein Begleiter sich plötzlich an einem Todesschauplatz oder in seinem Gebetsraum ohne eine Tür zur Passage wiederfand, musste er nur seinen Schlüssel nehmen und die folgenden Worte sprechen:
Hinter dieser Tür wartet der Himmel.
Calder malte sich aus, wie er vor Glory in dem leeren Kinderzimmer stand, um ihr die Kette mit dem Schlüssel überzustreifen, wie sie dann den Schlüssel zusammen ergriffen und sich eine Tür in der Wand auftat.
Als der Wagen hielt, stieg Calder aus und blickte bewundernd auf die hohen Hecken der Palastmauer. Durch das Metallgeflecht des schwarz-goldenen Tores konnte er die Palastanlage sehen: ein zugefrorener See, gewaltige, strahlend blaue und weiße Gebäude, makellos und kunstvoll verziert, prächtige Gärten wie aus dem Elysium, alles von reinem weißem Schnee bedeckt.
Zu seiner Überraschung ließen ihn die Wachen ungehindert passieren. Sie nickten ihm nicht nur respektvoll zu, sondern riefen gar ein Auto herbei, dessen Fahrer ihm mit einer Verbeugung den Schlag öffnete. Vielleicht hatte Rasputin wirklich Wunder vollbracht? Sie fuhren an einem kleinen, zugefrorenen See vorbei und über eine schmale Brücke, hinter der mächtige Gebäude aufragten. Die goldüberzogenen, mit Kreuzen gekrönten Pfeiler und Türmchen und die indisch anmutenden Fensterbögen ließen den Palast wie ein juwelenbesetztes Schmuckstück aussehen.
Vor einem der kleineren Gebäude hielt der Fahrer an und geleitete Calder in einen dunklen Flur.
»Wo sind die Kinder?«, fragte er. Das Kindermädchen war sicher nicht fern von seinen Schützlingen.
»Bitte wartet im Empfangszimmer, wenn es Euch
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