Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seelenhüter

Seelenhüter

Titel: Seelenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Whitcomb
Vom Netzwerk:
nichts ausmacht«, erwiderte der Diener, der ihm die Tür geöffnet hatte. Anstatt ihm den Weg zu zeigen, verschwand er durch die Eingangstür und ließ Calder allein zurück. Rasputin hätte sicher gewusst, in welchem Raum man ihn gleich erwartete, Calder dagegen ging vor Angst zitternd orientierungslos den Gang entlang, der mit Teppichen ausgelegt und von gepolsterten Stühlen und glänzenden Tischchen gesäumt war. Erleichtert vernahm er ein Kinderlachen – er war also auf dem richtigen Weg.
    Durch die Doppeltür vor ihm erhaschte er einen Blick in die Bibliothek. Große Fenster gingen auf einen der großen, leeren Gärten hinaus, ein Feuer knisterte im Kamin, dunkle, ledergebundene Bücher bedeckten die Wände und lagen und standen unordentlich auf nahezu jeder Oberfläche – stapelweise neben Sofa und Stühlen, unter den Lampen und auf dem weitläufigen Tisch, der sich über beinahe die gesamte Westwand erstreckte. Elektrische Lichter erstrahlten in dem Kronleuchter, und ein großer indischer Teppich in Rot und Gold lag unter dem Sofa vor dem Kaminfeuer.
    Von den drei anwesenden Frauen war keine Glory. Alexis’ Schwestern saßen an dem mit Stiften, Papier und geöffneten Büchern übersäten Tisch. Alle drei waren so hübsch wie an dem Tag, als Calder sie zum ersten Mal gesehen hatte, doch sie waren jetzt älter. Ihr honigbraunes Haar war im Nacken mit Schleifen zusammengefasst, und jede trug einen blassblauen, schlichten Kittel, an der Taille von einer marineblauen Schärpe zusammengehalten. Die mit einer Knopfreihe versehenen Ärmel bedeckten die Arme züchtig bis zu den Handgelenken. Ihre Gesichter waren liebreizend und offen – die Älteste war vielleicht zwanzig, die Jüngste sechzehn Jahre alt. Calder fragte sich, wo sich das Elfenmädchen versteckte.
    Der Junge, der mit dem Rücken zur Tür auf dem Boden saß, war zweifellos Alexis – Calder erkannte ihn an den Schattierungen seines dunkelblonden Haares. Er trug einen weißen Matrosenanzug mit marineblauen Streifen und Kragen.
Er muss fast zwölf sein,
dachte Calder.
Wie viele Jahre sind wohl vergangen, seit ich dem Jungen den Tod verweigert habe? Brauchen so große Kinder noch eine Gouvernante?
    Die Vorhänge auf der anderen Seite der Bibliothek flatterten über den Globus, der auf einem großen Gestell neben dem Fenster stand, und ein etwa fünfzehn Jahre altes Mädchen kam herein. Sie ähnelte ihren Schwestern sehr und doch wieder gar nicht. Dieselbe Haarfarbe, ja, doch einzelne Strähnen hatten sich aus der Schleife gelöst und umspielten wild ihr Gesicht. Dasselbe Kleid, ja, doch die Manschetten waren aufgeknöpft und die Ärmel bis über die Ellbogen aufgerollt. Der Saum war zerknittert, und ihre Strümpfe zeigten Spuren von Asche. Da waren Gemeinsamkeiten, doch dieses Mädchen hatte ein verschmitztes Lachen, gerötete Wangen und die gebogenen Augenbrauen eines Kobolds.
    Nach ihrem dramatischen Auftritt führte sie eine übertriebene Pantomime auf, bei der sie einen unsichtbaren Helden begrüßte, der in einem leeren Sessel vor dem Fenster saß, und mit ihm kokettierte. Sie drapierte die Vorhangschärpe wie einen Schleier um ihren Kopf und nahm huldvoll ein zerknülltes Papier wie eine Blume von ihrem imaginären Verehrer entgegen.
    Ihre Bewegungen waren exaltiert, ein wilder Tanz aus Gesten und Verrenkungen. Bald schon betrat ein unsichtbarer Bösewicht die Szenerie, den das Mädchen mit einem Schürhaken abwehrte. Calder schlussfolgerte, dass sie eine Laufbildaufnahme nachahmte. Von zweien oder dreien hatte er kurze Ausschnitte gesehen.
    Ihr Bruder lachte laut, als sie den Sieg errungen hatte und Luftküsse verteilte. Die älteste Schwester sah von ihrem Buch auf und erblickte Calder im Türrahmen. Sie lächelte und nickte höflich.
    »Guten Tag, Vater Grigori.«
    Calder nickte zurück, in der Hoffnung, angemessen weise zu wirken.
    Der Junge drehte sich weg, angespannt und steif.
    Das jüngste Mädchen hörte auf, sich zu verbeugen, und sah in Richtung Tür. »Vater Grigori?«, fragte sie verwundert. »Wo?«
    In dem Moment, als ihm die Jüngste in die Augen blickte, überkam Calder panische Angst, und er zog sich rasch in den Flur zurück.
    Da hörte er ihre Schwestern fragen: »Wer war das?«

7.
    C alder war erschrocken über das Bild, das er in dem vergoldeten Spiegel erblickte. Er hatte Rasputins Gesicht, dessen Augen, den Körper und den wilden Haarschopf … natürlich würden Glory und die Kinder ihn für Rasputin halten. Menschen

Weitere Kostenlose Bücher