Seelenhüter
unterschieden sich voneinander durch ihr Aussehen; auf der Erde verwandelte man sich nicht jedes Mal von einem Engel zu einem Krieger oder zu einem Mönch, wenn sich eine Tür öffnete. Mit Sicherheit würden sie ihren Augen trauen.
Trotzdem war Calders Zuversicht erschüttert. Er wollte zurück in die Bibliothek gehen und nach Glory fragen … doch er hatte Angst. Glory war die Einzige, der er sein Geheimnis offenbaren wollte. Die Vorstellung, dass ihn die jüngste Schwester als Eindringling entlarven könnte, ließ ihn zurückschrecken.
Ein Bediensteter erschien hinter Rasputin. »Die Zarin wird Euch jetzt empfangen.«
Calder erstarrte. Die Kaiserin von Russland hatte nach Rasputin gefragt, und jetzt musste er ihr entgegentreten, ohne die geringste Ahnung, wie er sich verhalten oder was er sagen sollte. Man führte ihn zu einer Tür am anderen Ende des Korridors. Der Bedienstete zog sich zurück, und zuerst dachte Calder, er sei allein in dem Raum, in dem überall Gemälde und Porträts an den Wänden hingen. Doch neben dem Kamin wartete jemand auf ihn.
Verständnislos musterte der Seelenhüter sein Gegenüber. Im Schein des Feuers saß Glory, allerdings trug sie eine Kette aus Diamanten um den Hals. Als sie lächelnd und mit ausgestreckten Händen auf ihn zukam, bemerkte er ihre Satinschuhe und den edlen Stoff ihres Kleids. So würde sich keine Gouvernante kleiden oder einen Besucher empfangen. Die Frau, die vor dem Zimmer des sterbenden Säuglings gewartet hatte, musste eine Freundin oder Verwandte gewesen sein. Die Frau mit dem rotgoldenen Haar war die Mutter des Jungen.
Glory war die Kaiserin.
Calder erstarrte und trat einen Schritt zurück.
»Ist etwas nicht in Ordnung?« Alexandra Romanow blieb stehen und betrachtete ihn besorgt. Er fragte sich, ob sie ihn tatsächlich beim letzten Todeskampf ihres Sohnes wahrgenommen oder ob er es sich nur eingebildet hatte.
»Erkennt Ihr mich?«, fragte er.
Verwirrt antwortete sie: »Mein Freund, was fehlt Euch?«
Alexandra hielt ihn für Rasputin, er merkte es ihrem Gesicht an. Sie hatte ihn nie in seiner wahren Gestalt neben dem Bett ihres Sohnes gesehen oder seine Worte vernommen, und jetzt erblickte sie in ihm nur Vater Grigori.
Dennoch spürte sie, dass etwas anders war. »Ihr habt Euch verändert«, flüsterte sie.
»Ja«, bestätigte Calder. »Das habe ich.«
Ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie stürzte auf ihn zu und ergriff seine Hand. »Ich wusste, dass die heilige Seite in Euch gewinnen würde.«
Sie war eine verheiratete Frau mit fünf Kindern und eine Kaiserin. Auch war sie viel älter, als Calder gedacht hatte, und ihr rotblondes Haar war von grauen Strähnen durchzogen. Sie war entzückend und besaß ohne Zweifel einen wunderschönen Geist, doch mit einem Mal wurde ihm klar, dass sie nie seine Besondere gewesen war. Nicht nur die Tatsache, dass sie viele Jahre älter war als er und an Mann und Kinder gebunden, erstickte sein Verlangen, ihr den Schlüssel zu übergeben, sondern vor allem, dass sie ihn nicht erkannte. Sie sah Calder nicht hinter seiner Verkleidung, und in ihren Augen fand er kein Zuhause.
»Ihr wurdet von Gott berührt.« Sie drückte seine Hand und sah zu ihm auf, als sei er ein Heiliger.
»Ich bin nicht Rasputin«, gestand Calder, doch sobald er die Worte ausgesprochen hatte, wusste er, dass sie ihm die Geschichte nicht glauben würde. Warum sollte er sie auch davon überzeugen? Er wollte und konnte ihr den Schlüssel nicht übergeben und sie ihrer Familie entreißen. Er dachte nach, wie er sie trösten und ihrer Gesellschaft entfliehen könnte, doch er zitterte, und sein Mund war trocken.
»Ich habe einen schrecklichen Fehler begangen«, fing er an.
»Beichtet mir nicht Eure Sünden«, sagte Alexandra und gab seine Hand frei. »Ich werde jedem erzählen, dass die Gerüchte, die unsere Feinde über Euch verbreiten, Lügen sind. Bitte lasst mich nicht Euer Bedauern hören.«
Übelkeit überkam Calder, weil er die Rolle eines Mannes spielen musste, der offenbar Skandale verursacht hatte. Alexandra geleitete ihn zu einem Kanapee und setzte sich neben ihn. Er versuchte, sich zu fassen, selbstsicher zu lächeln, wie es Rasputin täte, doch die Schuld nagte an ihm.
Er hatte seine Gebote für eine Phantasie gebrochen. Er hatte sich seinen Weg aus der Passage erzwungen, Rasputin missbraucht und zudem den Orden der Begleiter verlassen. Er musste sich dem Captain zu Füßen werfen und ihn um Vergebung bitten. Doch zuerst
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